Wenn Richter und Jugendämter über die Zukunft von Sprösslingen aus Scheidungsfamilien entscheiden, dann soll eigentlich der Kindeswille im Vordergrund stehen. Doch im Trennungskrieg wissen die Kinder oft selbst nicht, was sie wollen. Der Grund: Nicht selten hetzt der eine Elternteil die Kinder gegen den Ex-Partner auf. Für die Richter ein kaum lösbarer Konflikt. Die SPD fordert deshalb eine bessere psychologische Ausbildung für Juristen.
Anne hat Angst – vor ihrem Ex-Mann und ihrem eigenen Sohn. Eigentlich heißt sie nicht Anne, aber in diesem Text will sie ihren Namen nicht lesen. Sie wohnt im sechsten Stock eines Wohnblocks in München. Vom Balkon hat Anne einen schönen Blick über die Innenstadt mit ihren vielen Grünflächen und Kirchen. Unter einem der Dächer, die Anne von ihrem Balkon in der Weite sieht, muss ihr Sohn leben. Wo genau, weiß Anne nicht, denn seit ihrer Trennung vor zwölf Jahren hat sie nur selten von ihm gehört.
Auch gewalttätig sei ihr Ex-Mann gewesen, habe sie geschlagen, erzählt Anne. „Ich wusste, dass eine Trennung zu einer Katastrophe führt“, sagt die Frau heute. Eines Nachts setzte sie ihr Mann vor die Tür. Anne entschied, nicht mehr zurückzukehren. Ihr Mann forderte sie später auf, zur Familie heimzukommen – doch sie hatte Angst, wieder in den Strudel der psychischen und körperlichen Gewalt zu geraten. „Er begann zu stalken, rief mich bis zu 40 mal am Tag an oder tauchte unangekündigt bei mir in der Arbeit auf“, erzählt die Frau.
Kinder als Waffe
Mit ihrer Trennung gerieten auch ihr Sohn, damals 16, und ihre zwölfjährige Tochter in den Scheidungskrieg. Kaum hatte Anne den Kontakt zu ihrem Mann abgebrochen, sprachen auch ihre Kinder nicht mehr mit ihr. Für die beiden Geschwister war Anne schuld an der Trennung – so zumindest hatte es der Vater erzählt, bei dem die Kinder lebten.
Dass es immer wieder vorkommt, dass ein Elternteil Kinder entfremdet, weiß die Würzburger Psychologin Christiane Förster. Annes Fall bezeichnet sie als besonders schweren Entfremdungs-Fall: „Kinder werden bei Sorgerechtsstreitigkeiten immer wieder instrumentalisiert. Das mündet meist im Hass gegen einen Elternteil, wenn Richter und Psychologen nicht unverzüglich eingreifen.“
PAS, Parental Alienation Syndrom oder Eltern-Kind-Entfremdung, nennt man das. In Amerika ist das Syndrom seit 1985 bekannt. In Deutschland hingegen kennen sich bis heute die wenigsten Richter, Anwälte, Gutachter und Jugendämter mit der Entfremdung aus. Also ausgerechnet genau jene Menschen, die bei einem Ehestreit über die Unterbringung der Mädchen und Jungen entscheiden.
„Wenn die Kinder empfänglich für Entfremdung sind, kann ein Elternteil sie gänzlich gegen den Ex-Partner aufhetzen. Sollen Kinder dann vor Gericht sagen, ob sie beim Vater oder der Mutter leben wollen, haben sie längst keine eigene Meinung mehr“, so Förster.
Das musste auch Anne erfahren: Im Sorgerechtsverfahren entschieden die Kinder, dass sie beim Vater leben wollten. Der Richter folgte dem Willen der Kinder. „Meine Tochter sagt heute, dass das nie ihr eigener Wille war. Ihr Vater hatte ihnen täglich eingeredet, ich sei schuld an der Trennung. Er hatte sie sogar gezwungen, mich in Anrufen und Briefen zu beschimpfen“, sagt sie.
So kam es, dass Anne über Jahre nur in Drohbriefen und Beschimpfungen am Telefon von ihren Kindern hörte. Auf Pakete und Briefe, die sie ihren Kindern schickte, erhielt sie nie eine Antwort. Im Scheidungsverfahren bekam Anne später immerhin ein umfassendes Besuchsrecht für die Kinder zugesprochen.
Doch Anne gab nicht auf. „Ich wusste, dass mein Mann gewalttätig war, dass er den Kindern den Umgang mit mir verbot. Die Kinder mussten weg von ihrem Vater“, sagt Anne. Sie meldete sich beim Jugendamt. Doch auch das konnte ihr nach mehreren Gesprächen mit Vater, Tochter und Sohn nicht helfen.
Am 28. März 2002 schrieb das zuständige Amtsgericht nach den Gesprächen der Familie mit dem Jugendamt, dass ein „schwerer Elternkonflikt“ zu erkennen sei. Außerdem gebe es „Hinweise, dass die Tochter in dem Konflikt instrumentalisiert wird und sehr unter Druck steht“. Am Telefon soll das Jugendamt ihr gegenüber sogar zugegeben haben, dass man davon ausgehe, dass der Vater gewalttätig sei, aber sich nicht traue, in die Familiensituation einzugreifen. „Seitdem habe ich weder vom Amtsgericht noch vom Jugendamt etwas gehört“, sagt Anne.
Solche Verfahren mit überforderten Juristen kennt Rechtsanwalt Jürgen Rudolph: Er war drei Jahrzehnte lang Familienrichter. „Und ich habe die ersten 14 Jahre dieselben Fehler gemacht, wie sie heute noch Standard sind“, sagt er. Er habe, wie es viele Richter noch immer tun würden, über die Zukunft von Familien entschieden, ohne die Verantwortung der Eltern anzufordern.
Rudolph wollte etwas ändern und gründete mit Kollegen die Cochemer Praxis – benannt nach der Mosel-Stadt, in der Rudolph 29 Jahre Familienrichter war. Nach der Praxis müssen die Eltern besonders nach der Trennung ihre Verantwortung für die Kinder wahrnehmen. „Wir erarbeiten mit den Eltern eine Lösung für die Kinder. Es gibt einen frühen Gerichtstermin, in dem alle Seiten zu Wort kommen“, erklärt Rudolph. Und wenn sich zunächst nicht alle Beteiligten auf eine Lösung für die Kinder einigen können, gehe das Verfahren in einer Schlichtung weiter – bis sich alle Familienmitglieder geeinigt haben. „Dann ersetzt die Entscheidung der Eltern die des Gerichts“, so Rudolph.
In einigen deutschen Städten, wie Augsburg, laufen Scheidungen bereits erfolgreich nach der Cochemer Praxis ab. Hier sind alle Beteiligten – Richter, Anwälte, Jugendämter, Sachverständige und Beratungsstellen – informiert und wissen, wie wichtig ein schnelles Ende aller Streitigkeiten für die Kinder ist. Doch Annes Richter und Entscheider beim Jugendamt hatten weder von Eltern-Kind-Entfremdung noch von der Cochemer Praxis gehört. Bis sie selbst auf das Phänomen PAS aufmerksam wurde, waren ihr die Kinder längst fremd.
Zufälliges Treffen
Die Zeit verging, die Wende kam erst kurz vor dem 16. Geburtstag von Annes Tochter. Das Mädchen floh vor seinem Vater und stand plötzlich vor Annes Haustüre. Anne hatte ihre Tochter vier Jahre nicht mehr gesehen, doch sie wusste: „Ich muss funktionieren, wenn meine Kinder vor der Türe stehen. Dann musste ich für sie da sein.“ Annes Tochter zog bei ihrer Mutter ein, blieb und erzählte, wie sie und ihr Bruder von ihrem Vater gegen Anne aufgehetzt wurden. „Meine Tochter hatte ein sehr schlechtes Gewissen nach den vielen hasserfüllten Jahren.“
Anne selbst versuchte die Scheidung nicht auf die Kinder abzuwälzen: „Das war eine Sache zwischen meinem Ex-Partner und mir und hätte nie auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden dürfen“, sagt sie. Laut Statistik wird in Deutschland inzwischen jede zweite Ehe geschieden.
Die Themen Scheidung und Eltern-Kind-Entfremdung betreffen längst nicht mehr eine Randgruppe. Das hat auch die bayerische Politik erkannt. Im Mai gab es einen Beschluss der Kinderkommission im bayerischen Landtag zum Thema Eltern-Kind-Entfremdung. Darin empfiehlt die Kommission einstimmig eine Qualifizierungsoffensive für alle an Scheidungsverfahren beteiligten Berufsgruppen wie Richter, Mitarbeiter von Jugendämtern, Anwälte und Gutachter. „Besonders Juristen, die kaum psychologisch auf solche Probleme geschult sind, müssen für solche Probleme besser ausgebildet werden“, fordert die Ex-Vorsitzende des Gremiums, Simone Strohmayr.
Die SPD-Frau fordert seit Längerem eine verbindliche Fortbildungspflicht für Familienrichter und -anwälte im psychologischen Bereich. Zwar gebe es freiwillige Fortbildungsangebote für Juristen, aber eine verpflichtende Regelung müsse her.
Mit dem Beschluss der Kinderkommission ist Strohmayr ihrem Ziel zumindest ein Stück näher gekommen: „Nun müssen wir politisch erreichen, dass das Scheidungsverfahren mehr am Kind ausgerichtet wird“, sagt Strohmayr. Zu oft müsse sie von Lehrern und Eltern aus ihrem Wahlkreis hören, dass Kinder unter Scheidungen leiden – und nicht wissen, zu welchem Elternteil sie halten sollen.
Annes Sohn ist inzwischen erwachsen. Zu ihm hat sie bis heute keinen Kontakt aufbauen dürfen. „Meine größte Angst war, dass ich meinen Sohn eines Tages auf der Straße sehe und ihn nicht mehr erkenne“, sagt Anne.
Ihre Angst war unbegründet: Vor einem Jahr sah Anne ihren Sohn zufällig auf der Straße und sprach ihn an. „Er hat gesagt, dass ich eine gute Mutter war, er aber keinen Kontakt zu mir aufnehmen kann – ohne irgendeine Begründung.“ Auf ihrem täglichen Weg zur Arbeit lassen Anne die Gedanken noch immer nicht los: „Wenn ich im Auto sitze, sehe ich immer aus dem Fenster, denke an meinen Sohn und daran, dass er hier jederzeit über die Straße laufen könnte.“ (Felix Scheidl)
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