Leben in Bayern

Auch gegenm diesen Großbetrieb im Raum Bad Grönenbach wird ermittelt. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

01.07.2020

Für jede Kuh ein Gutachten

Geschlagen, getreten, gequält: Vor einem Jahr erschüttern Videoaufnahmen von misshandelten Milchkühen die Verbraucher. Fünf Allgäuer Betriebe geraten in der Folge ins Visier der Ermittler. Die Staatsregierung kündigt Reformen an. Was hat sich seitdem verändert?

Die Aufnahmen, die den Allgäuer Tierschutz-Skandal auslösen, sind grausam: Eine kranke Kuh liegt am Boden und röchelt vor sich hin. Eine andere wird mit ihrem Bein an einem Schlepper befestigt und wie ein lebloser Gegenstand durch den Stall gezogen. Die Videosequenzen, die der Tierrechtsverein Soko Tierschutz Anfang Juli 2019 der ARD und der "Süddeutschen Zeitung" zuspielt, zeigen auch, wie Tiere geschlagen und getreten werden. Der Verein stellt Strafanzeige gegen einen Großbetrieb im Raum Bad Grönenbach (Landkreis Unterallgäu), von dem die Aufnahmen stammen sollen.

In den folgenden Monaten geraten vier weitere Betriebe wegen Verstößen größeren Ausmaßes in den Fokus von Kontrollbehörden und Ermittlern. Solche Verstöße gibt es zwar auch andernorts, doch durch die zeitliche und örtliche Nähe werden die Vorfälle als Allgäuer Tierschutz-Skandal bekannt. Der Landtag debattiert in der Folge über Reformen. Was hat sich seitdem verändert?

ERMITTLUNGEN
Gegen fünf Allgäuer Betriebe wird derzeit ermittelt - drei davon im Raum Bad Grönenbach, zwei im Oberallgäu. Die Staatsanwaltschaft Memmingen rechnet bei den drei Unterallgäuer Fällen mit einem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen im Laufe des Monats Juli. "Bei jeder Kuh muss zu jedem einzelnen Fall ein Gutachten von Sachverständigen eingeholt werden", sagte ein Sprecher. "Das dauert." Zudem habe die Sichtung der sichergestellten Akten die Ermittlungen in die Länge gezogen.

Ein erstes Ergebnis gibt es bisher nur im Fall eines Oberallgäuer Betriebs, in dem die Kontrolleure im Januar unter anderem kranke und unterernährte Kühe vorgefunden hatten. Nachdem das zuständige Landratsamt ein Tierhaltungsverbot verhängt hatte, klagten die drei betroffenen Landwirte dagegen - und einigten sich schließlich mit der Behörde: Die Kläger, ein Ehepaar und dessen volljähriger Sohn, dürfen vorerst selbst keine Tiere mehr halten, aber auf anderen Höfen arbeiten. Den eigenen Rinderbestand hat die Familie nach Angaben des Verwaltungsgerichts Augsburg inzwischen verkauft. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Kempten dauern davon unabhängig in beiden Oberallgäuer Fällen an.

WEITERE VERSTÖßE
Die fünf genannten Betriebe sind bei weitem nicht die einzigen im Allgäu, bei denen Kontrollbehörden in den vergangenen zwölf Monaten Verstöße gegen das Tierschutzgesetz feststellt haben. Allein im Landkreis Unterallgäu wurden nach Angaben des Landratsamts von Juli 2019 bis Mitte Juni 2020 in 123 Betrieben Verstöße entdeckt, 90 von ihnen hielten Rinder. "Die Verstöße reichen von Hygienemängeln bis hin zur Straftat", sagte eine Sprecherin. Im Landkreis Oberallgäu entdeckten die Kontrolleure im gleichen Zeitraum bei 111 Betrieben Verstöße. Meist seien es mehrere pro Betrieb gewesen, teilte das Landratsamt mit.

Zusätzlich kontrollierten Veterinärämter mit den jeweiligen Bezirksregierungen und dem Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit im Rahmen eines Sonderprogramms 13 weitere große Rinderbetriebe in ganz Bayern. Dabei habe es "in Einzelfällen Auffälligkeiten" wie lahmende Tiere oder eine unzureichende Wasserversorgung gegeben, teilte ein Sprecher mit. Nach Angaben der Bezirksregierungen seien die Verstöße nun weitgehend abgestellt.

BETRIEBE
Von den fünf betroffenen Allgäuer Betrieben halten drei immer noch Rinder, darunter zwei Großbetriebe im Raum Bad Grönenbach mit 2800 beziehungsweise 1800 Rindern zu Beginn der Ermittlungen. Zu den Vorwürfen wollen die Inhaber weiter keine Stellung nehmen. Der Betreiber eines dritten Unternehmens im Raum Bad Grönenbach hat seine Milchviehhaltung inzwischen eingestellt. Er hatte im Oktober 2019 eingeräumt, aussortierte Kälber preisgünstig von anderen Landwirten erworben zu haben. Diese seien teilweise krank gewesen, die Behandlungskosten habe er nicht stemmen können.

KUNDEN
Nach Bekanntwerden der Vorwürfe beendeten mehrere Firmen die Geschäftsbeziehungen zu dem Betrieb im Unterallgäu, von dem die Aufnahmen der Soko Tierschutz stammen sollen. Ein Großschlachthof ließ sich nach eigenen Angaben zwischenzeitlich "Testlieferungen" schicken. Weitere Lieferungen seien aber derzeit nicht vorgesehen, sagte ein Sprecher. Eine Käserei beendete die Zusammenarbeit aus "ethischen und moralischen Gründen".

Der andere Großbetrieb im Unterallgäu liefert dagegen weiter an ein Unternehmen, das Molkereiprodukte herstellt. Er sei zwar mehrere Tage von der Milchabholung ausgeschlossen worden, teilte ein Sprecher der Firma mit. Doch bisher seien keine detaillierten Vorwürfe vorgelegt worden, mit denen sich ein erneuter Ausschluss begründen ließe. Die Firma habe als Konsequenz aus dem Skandal aber ihre Milchlieferordnung geändert. Demnach kann die Abholung bei Tierschutzverstößen bis zur Beseitigung der Mängel gestoppt werden, im Wiederholungsfall droht der Ausschluss aus der Genossenschaft.

KONTROLLREFORM
Nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe kündigte Verbraucherschutzminister Thorsten Glauber (Freie Wähler) eine Reform der Tierschutz-Kontrollen in Bayern an. Seitdem sind nach Angaben des Ministeriums 70 neue Stellen in der Veterinärverwaltung geschaffen worden, davon 25 bei der Kontrollbehörde für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (KBLV). Seit dem 1. Juli übernimmt die landesweit zuständige Behörde die Überwachung von Großbetrieben mit Kapazitäten für mindestens 600 Rinder.

Trotz leichter Verbesserungen herrsche bei den Veterinärämtern weiter Personalmangel, sagt der Vorsitzende des Landesverbands der beamteten Tierärzte in Bayern, Jürgen Schmid. So sind im Landkreis Unterallgäu derzeit sechs Tierärzte für etwa 130 000 Tiere von 1484 Rinderhaltern zuständig - dazu kommen knapp 5000 Halter anderer Tiere. Im Landkreis Oberallgäu überwachen sechs Veterinäre fast 6000 Tierhalter. Die Zahl der Betriebe in Unter- und Oberallgäu, für die jetzt die KBLV zuständig ist: drei.

Neben dem andauernden Personalmangel sieht Schmid aber vor allem den Vollzug bei Tierhaltungsverboten als Problem. "Bei 60 Tieren ist es möglich, sie woanders unterzubringen", sagt Schmid. "Aber wie will man einem Landwirt 1300 Tiere wegnehmen und sie so unterbringen, dass es ihnen besser geht?" Dazu komme, dass Halter bei schwerwiegenden Verstößen das behördliche Vorgehen durch Einsprüche und Klagen blockieren könnten.

LANDWIRTSCHAFT
"Wir brauchen Veränderungen, so wie in den letzten Jahrzehnten können wir nicht weitermachen", sagt Hans Foldenauer, Sprecher des Bunds Deutscher Milchviehhalter. Zunehmender Wettbewerbsdruck und immer größere Betriebe dienten nur dazu, die Ernährungsindustrie mit billigen Rohstoffen zu versorgen.

"Mit dem Tierschutz-Skandal wurde auch deutlich, dass das Verhältnis von zur Verfügung stehenden Arbeitskräften zu den damit zu betreuenden Tieren nicht mehr zusammenpasst", sagt Foldenauer. Das gelte auch für kleinere und mittlere Betriebe. "Das führt jedoch irgendwann zum Kollaps, sowohl bei den Tieren als auch den Menschen." Die Agrarpolitik müsse EU-weit neu ausgerichtet werden, um Betrieben so viel Einkommen zu ermöglichen, dass sie sich "eine entsprechende Ausstattung mit Arbeitskräften leisten können".

Tierarzt Jürgen Schmid sieht das ähnlich: "Es gibt diese Probleme in allen Größen von Betrieben. Da ist es ein bisschen enttäuschend, dass bisher nichts passiert ist." Auch Friedrich Mülln, Vorsitzender des Vereins Soko Tierschutz, sieht die Betriebsstrukturen als größtes Problem: "In dem Moment, wo die Behörden ihren Job machen, bricht das System der industriellen Tierhaltung zusammen", sagt er. "Dieses Problem ist kein Problem von Bad Grönenbach."
(Frederick Mersi, dpa)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Sollen Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Passwort vergessen?

Geben Sie Ihren Benutzernamen oder Ihre E-Mail ein um Ihr Passwort zurückzusetzen. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: vertrieb(at)bsz.de

Zurück zum Anmeldeformular 

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.