Leben in Bayern

Münchner U-Bahn: 50 Prozent der Menschen sind dort e-mäßig beschäftigt. (Foto: dpa)

03.01.2014

Gedankenspiele im Untergrund

Einmal quer durch München mit der U-Bahn: Weil es kaum noch richtige Gespräche gibt, empfiehlt sich als Zeitvertreib beim Stationenmarathon das Berufe-Raten

Wenn die U 6 irgendwo jenseits des Harras mal so richtig Fahrt aufnimmt, geht es ja ganz flott. Wie flott manche Leute ihr Leben planen, das erfährt man aber eher zwischen den Stadtmitte-Stationen, denn da sitzen einem dann die wirklich flippen Nachbarn gegenüber. Dicht an dicht zum Beispiel die zwei Sporttaschen samt erschöpftem jungen Herrn im Jogger: „Machst du jetzt eigentlich deine Famulatur in Brasilien?“ – „Nein, ich glaube eher in der Karibik.“
Dorthin hat die medizinische Sporttasche Nr. 2 offenbar auch schon gemailt – aber keine Antwort bekommen. „Vielleicht sprechen die kein Englisch. Was können die dort eigentlich?“ – „Wo denn genau ?“ – „Weiß ich nicht, ist vielleicht niederländisch. Oder eben karibisch.“ Da hofft man nur, dass die Geografiekenntnisse bis zum Flugticketkauf genauer werden.
Aus der anderen Richtung hört man die Begeisterung einer jungen Dame über ihre Oma: „Stell dir vor, mit 83 fliegt die jetzt nach Mumbai, steigt dann in die „Deutschland“ um und fährt mit der bis Singapur.“ Die mittlere Generation lächelt bewundernd: „Ja, die ist noch fit!“, und merkt an, dass die Oma dann ja gleich die ganze Weltumrundung der „Deutschland“ mitmachen könnte: Alter kein Problem, das Konto offenbar auch nicht, von dem schon bei den vierzehn Tagen mit Weihnachten und Silvester, zwischen Mumbai und Singapur ein ganz schöner Batzen abgebucht werden dürfte. „Ist da eigentlich der Flug schon inklusive?“, fragen sich die Damen und sind am Sendlinger Tor schon ausgestiegen. Ob der übliche U-Bahn-Luxus der Oma wohl auch ausreichen würde?

"Herr Nachbar, reden Sie eigentlich mit mir?"


„Herr Nachbar, reden Sie jetzt mit mir ?“ Auf solche Fragen erntet man in der U 6 höchstens erstaunte Blicke. Oder kriegt in der Regel gar keine Antwort. Wenn, dann würde sie ohnehin „Nein“ lauten. Denn man redet in der U-Bahn eigentlich nicht mit seinem Nachbarn, grantelt ihn höchstens mal an. Man spricht vielmehr mit Ulla in Köln oder sagt dem Giuseppe, dass er einem einen Platz im Audimax aufheben soll. Und man redet per Mikro – unsichtbar irgendwo angesteckt, eingestöpselt. Da braucht man nur zu flüstern, richtig laut reden nur die mit einem ordinären Handy.
Manchmal ist man regelrecht irritiert auf der Suche nach dem Gesprächspartner in der Nachbarschaft des Wagons: Redet der mit irgend jemand auf der gegenüber liegenden Bank oder doch mit sich selbst?
Ungewollt kriegt man ganze Beziehungstragödien mit: etwa zwischen Goetheplatz und Poccistraße die verzweifelte Frage ins Handy: „Was essen wir eigentlich heute Abend?“ Der Partner weiß es offenbar auch nicht, der Ton wird gereizter – bis man sich auf Schinkennudeln einigt. Und man kann Rückschlüsse ziehen auf Gewohnheiten bei der Vorratshaltung: „Nudeln hab’ ich noch!“ Dann bleibt aber immer noch offen: „Welchen Schinken soll ich kaufen?“ Man würde ja am liebsten ein Rezept hinübersimsen, aber da steigt die Köchin schon aus – offenbar keine Kundin vom Viktualienmarkt-Spezialitätenstand, höchstens von der Supermarkt-Theke. Aber wenigstens ist ihr Abend gerettet. Bei einem selbst knurrt der Magen – es sind noch zehn Stationen bis zum Ziel Großhadern.
Alle regen sich über den NSA auf: Aber die Spione sind unter uns und greifen Handys, Smartphones, jeden Ohrstöpsel und Kopfhörer ab. Wahrscheinlich ist nicht die Notwendigkeit, sondern die Versuchung einfach zu groß, alles aus Angela Merkels und ihrer Landsleute Nähkästchen zu erfahren. Kann man nachvollziehen, wenn man in der U 6 stadteinwärts nicht sitzt sondern steht. Und hinunterschaut auf die Palette all jener E-Toys, für die Fans in langen Schlangen anstehen, wenn’s ein neues Modell gibt. Keine Ahnung, ob das verboten ist oder einfach nur indiskret, wenn man runterschaut aus der Stehperspektive auf die flink flitzenden Finger, die ihre SMS in die Tastatur hacken. Oder herumrätselt, was das denn für eine E-book-Seite ist, die gerade umgeblättert wird (Kitsch oder Klassiker?), ob was NSA-Spionage-Mäßiges auf dem Display erscheint oder nur Solitär, das Altherren-Computerspiel. Da hält man besser an sich und weist dem Patience-Spieler nicht auf einen falschen Zug hin oder spielt gar gleich selbst mit. Aber da würde man sich ja als Spion outen.
Damit man sich nicht verrät, schaut man also lieber unverbindlich zum nächsten E-Entertainment einen Sitzplatz weiter  – oder zählt einfach ab, ob die Vermutung stimmt, die man ohnehin schon immer hatte: 50 Prozent der Fahrgäste sind e-mäßig beschäftigt. Also haben sie keine Zeit mehr für Small Talk oder wenigstens eine typisch Münchnerische Grantlerei.

Ist das Luren auf andere Handys verboten oder nur indiskret?


Meistens sind es die Rentner, die aus den besseren Vierteln zwischen Ungererstraße und Englischem Garten oder die draußen von Freimann und Alter Linde, die ohnehin schon ihren Platz haben in der U 6 – und trotzdem granteln: „Ja, früher...!“ Früher, da seien die Schulkinder, die jungen Männer und Mädchen geradezu aufgesprungen, um einem ihren Platz anzubieten. Vorbei die Zeiten! Auch wenn in Wirklichkeit kaum einer von den Rentiers steht – die Alt-Grantler malen immer ein Menetekel an die Tunnelwand: Von Oldies, die sich ihre neuen Hüftgelenke in den Bauch stehen, von schnöseligen Jungakademikern, die sich dafür auf die blauen Sitze fläzen und Döner futtern.
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die aus der Mode gekommenen Nerzjacken müssen kaum lange stehen, dafür umso mehr die vom Studieren in Garching erschöpften Rucksackträger in ihren dicken Michelin-Jacken. Den ganzen Tag sind sie dem Atomphysikprofessor hinterher gehechtet durchs Labor. Dagegen haben sich die Damen und Herren Pensionisten ausgeruht für ihren Ausflug stadteinwärts in die Pfälzer Weinstube zum „echten Viertel“ oder in den Ratskeller, wo wieder ein gut gewärmtes Stammtischplatzerl auf sie wartet. Ja eigentlich müssten sie doch aufstehen für das gestresste Jungvolk, das ihre Renten verdienen soll! Noch dazu, weil sich das Tablet im Stehen so schlecht verwenden lässt.
Übrigens ganz interessantes Thema fürs Beobachten in diesem Zusammenhang: Stehen junge Männer oder Damen zuerst auf für die altersschwachen Vorfahren, Ausländer oder Einheimischen? Wie ist das eigentlich mit dem Aufstehen für das ehrenvolle Alter in der Straßenbahn am Hindukusch oder in der Tokyoter U-Bahn? In München kann man sich jedenfalls manchmal der angebotenen Plätze kaum erwehren. Und möchte als Best Ager doch lieber beweisen, dass man stante pede und aufrecht bis zum Odeonsplatz aushält.

Balearisch Verschwitzte treffen auf Prada-Düfte


Unvermittelt ergibt sich doch noch ein „richtiges“ Gespräch – das Gegenüber hat kurz vor dem Marienplatz einen Tipp: „Mit allen Sinnen beobachten!“ Das hat sie in einem Kurs über „Kreatives Schreiben“ gelernt.
Seither schaue ich nicht nur die Leute in der U 6 an – sondern rieche sie auch. Das kann gelegentlich ein zweifelhaftes Vergnügen sein. Wenn zum Beispiel einer seine Flugkoffer von Mallorca West nach Hause schleppt und immer noch balearisch schwitzt. Aber wenn man sich der Oper und dem Residenztheater nähert, kommt Vergnügen auf – an den Düften von Hermès oder Prada.
Man riecht es den Leuten an, ob sie mit Ziel Troubadour unterwegs sind. Und man sieht es ihnen natürlich auch an. Wo sonst die Winterjacken von Jack W. oder die dicken Daunenwürste von Moncler in Fake-Fassung unterwegs sind, mischt sich abends – nein, schon lange nicht mehr der Nerz, sondern das edle Escada-Tuch dazu. Selten genug, denn die richtig noblen Münchner fahren ja sowieso mit ihrem SUV in die Operngarage und fallen als U 6-Kunden aus.
So sind es wohlriechend und Klassik-gekleidet eher die Kunden aus Ingolstadt oder Landshut, die wegen der günstigen Parkgebühren Fröttmaning angesteuert haben und die Theaterkartengratisfahrt nützen: keine Parkplatzsorgen, nachdem man schon um Kaufmann und Harteros im Internet gekämpft hat. Da darf man dann schon mal triumphierend den Duft von Douglas auflegen und den Untergrund-Nachbarn erfreuen, der nicht zur Tuberkulose-Traviata, sondern zum Klinikum Großhadern fährt. Vom Nordfriedhof bis nach Haderner Stern, Großhadern, Klinikum (diese Reihenfolge lernt man am schnellsten) sind es 16 Stationen – und wenn nicht gerade Morgenstau im Untergrund ist, dauert die Fahrt überschlägig 25 Minuten.
Da ist der freundliche Kondukteur, der vielleicht doch noch eine Minisekunde wartet, wenn man die Treppe heruntergerannt kommt, schon lange unterwegs: von Garching, Fröttmaning oder Kiefergarten. Wenn man das Retour und vielleicht noch eine notwendige zweite Fahrt dazurechnet, weil man etwas vergessen hat, kommt ganz schön was zusammen, wenn man die kranke Erbtante besuchen will oder Frau und Kind: 64 Stationen pro Tag – aber das für die geradezu wohlfeilen 18,60 Euro pro Wochenkarte.
Die Fahrtzeit kann man sich interessant vertreiben: Wer Ohrstöpsel hasst und sich seiner Umgebung mehr zuwenden als sich von ihr abkapseln will, dem empfiehlt sich das Ratespiel: „Wer ist mein Nachbar?“ Oder: „Wer will weswegen wohin?“
Dabei macht man recht unterhaltsame Beobachtungen. Die Schwarzer-Anzug-weißes-Hemd-Business-Men kommen einem schon auf der Rolltreppe entgegen: Ziel Stadtsparkasse, wo schon die vielen Geldtransporte-Trucks warten. Wenn diese Anzugträger ihrer bedeutenden Beratertätigkeit entgegenstreben, weiß man: noch zwei Minuten, bis es stadteinwärts geht.
Dann wird erst mal alles klar: Studenten mit ihren Rucksäcken voll von Wissenschaft oder sonstigem Wer-weiß-was steigen an der Uni aus. Dann wird die Lage unübersichtlich: An den drei großen Um-und Aussteigestationen Odeonsplatz, Marienplatz und Sendlinger Tor rät sich schwer, wer mit wichtiger Miene ein Ministerium anstrebt oder einen der Shops, in denen einem bedeutet wird: Wir haben hier puren Luxus. Allein schon deshalb, weil es keine Preisschilder mehr gibt. Aber das liegt am Araber, der zum Einkaufen einfliegt und das Handeln gewöhnt ist.
Über den Harras hinaus bekommt das lustige Berufe-Raten andere Schwerpunkte: Fast alle fahren bis Großhadern durch – zum Klinikum, wohlgemerkt. Aber wer davon ist der sparsame Oberarzt, wer der MRT-Klempner, wer Krankenschwester oder eine vom outgesourcten Servicepersonal, die später fragen wird, was man speisen möchte, wo man doch nur einen Haferschleim kriegt?
Noch sehen sie alle gleich aus – noch. Bis sie dann in die grünen Pflegerinnenkittel schlüpfen, in die blauen von der Intensivstation oder den Schwarz-Weiß-Dress der Serviceleute. Vielleicht sitzt man ja auch dem nachmaligen Weißkittel gegenüber, der bald über Bauch, Prostata oder Blase das Skalpell schwingt? Besser, man ist höflich und lässt jedem den Vortritt an der Rolltreppe: Nicht, dass der Chirurgus das unhöfliche Gegenüber von vorhin in der U 6 wiedererkennt …
(Uwe Mitsching)

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