Leben in Bayern

Polizeieinsatz bei Anti-WAA Wackersdorf-Demonstration. (Foto: dpa)

07.05.2018

Gewahrsam ohne Grenzen

Die Aufrüstung der Polizei und die Befürchtungen vor einem Überwachungsstaat sind nicht neu. Vor gut 30 Jahren gab es in Bayern ähnliche Diskussionen wie derzeit. Die Anlässe waren allerdings viel gravierender

Am 1. Februar 1985 wurde in Gauting der MTU-Manager Ernst Zimmermann ermordet, am 9. Juli 1986 in Straßlach der Siemens-Manager Karl Heinz Beckurts. München, soeben vom Spiegel zur „heimlichen Hauptstadt“ erklärt und selbst als „Weltstadt mit Herz“ werbend, schien zur Hauptstadt des ultralinken Terrors zu werden, zumal sich der Ballungsraum zu einem Rüstungszentrum entwickelt hatte. Dann kam auch noch die geplante Plutoniumfabrik Wackersdorf (WAA). Die dortige Schlacht zu Pfingsten 1986, bei der die jungen Bereitschaftspolizisten von Schwarzvermummten mit Brandsätzen made in China bombardiert wurden, war Auslöser für neue Gesetze und eine bisher beispiellose Hochrüstung der Sicherheitskräfte.  „Notfalls im Alleingang“ wolle Bayern seine polizeiliche Strategie und Taktik dieser „neuen Dimension“ anpassen, verkündete der damalige Innenminister Karl Hillermeier (CSU) in einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Schon hatte der Technologiekonzern MBB in Ottobrunn sogenannte  „Wirkwurfkörper“entwickelt. Es handelte sich um Rohre, deren Geschosse aus mindestens 60 Meter Entfernung eine „relativ gleichmäßige physische Schlagwirkung“ bei den Getroffenen erzielen sollten, ohne ihm gefährliche Verletzungen zuzufügen. Wasserwerfer und Hubschrauber wurden mit Reizgas (CS) ausgerüstet, das bei medizinischen Versuchen im Ausland zu Panik und Atemstillstand bis zu zehn Sekunden führte. Wohl davon wissend, warnte Hillermeier die Bevölkerung, sich auch nur in der Nähe militanter Demonstrationen aufzuhalten. Tatsächlich starb in Wackersdorf ein asthmakranker Ingenieur aus  München nach einem CS-Einsatz. Münchens ehemals führender Ordnungshüter Peter Gauweiler rekrutierte aus Freiwilligen der Bereitschaftspolizei ein neues „Unterstützungskommando“ (USK) und ließ die neuen Waffen und Taktiken manövermäßig demonstrieren. Der Rechtsstaat marschierte weiter in Richtung „Ordnungszelle Bayern“. Von besonderer Brisanz war ein geplantes Unterbindungshaft-Gesetz, das die CSU im Eilverfahren durch den Landtag peitschte. Es ging weit hinaus über die bisherige, auch in anderen Bundesländern geltende Bestimmung, wonach die Polizei einen erkennbar potenziellen Straftäter für 48 Stunden in Gewahrsam nehmen konnte. Diese Regelung erschien dem damaligen Innenminister Edmund Stoiber kraft- und wirkungslos.

CSU lehnte eine Expertenanhörung damals knallhart ab

Nach dem Bayern-Gesetz, das nach wie vor gilt, müssen beispielsweise unbeteiligte Autofahrer, die im Kofferraum einen vollen Benzinkanister haben und zufällig in die Nähe einer Demonstration geraten, auf dem Territorium des Freistaates Bayern seit 1. April 1989 bei einer polizeilichen Straßenkontrolle damit rechnen, abgeführt und eingesperrt zu werden. Der Benzinkanister könnte ja, je nach „Prognose“ der Polizei, als Molotow-Cocktail verwendet werden. Sogar ein Wagenheber, ein Campingmesser, eine Fahrradkette oder ein Motorradhelm mit Visier könnte  den Fahrzeugbesitzer oder seine Begleitperson hinter Gitter bringen, unkte der Grünen-Abgeordnete Hartmut Bäumer, selbst Richter und WAA-Aktivist. Keineswegs handle es sich um eine „Lex Wackersdorf“, versicherte Stoiber im Landtag, während zwei Frauen auf der Zuschauertribüne ein Transparent mit der Aufschrift „Das Recht wird beerdigt“ entrollten und sofort vom Vize-Präsidenten Helmuth Rothemund (SPD) des Saales verwiesen wurden. Vielmehr gäbe es konkrete Erkenntnisse über drohende Straftaten im Zusammenhang mit dem 100. Geburtstag von Adolf Hitler am 20. April. Der Rechtsstaat werde mit dieser Novelle gestärkt und nicht gefährdet, meinte der spätere Landesvater. Da wegen der rechtsextremen Gefahr, wie sie die bayerischen Verfassungsschützer ausgemacht hatten, offenbar Eile geboten war, lehnte die CSU die von den beiden Oppositionsparteien beantragte Expertenanhörung knallhart ab. Sozialdemokraten und Grüne luden nunmehr Staatsrechtler sowie Praktiker von Polizei und Justiz aus der ganzen Bundessrepublik zum Hearing. Der Tenor: Die geplante Gesetzesänderung sei undurchdacht, unnötig, unpraktikabel und wahrscheinlich verfassungswidrig. „Ein weiterer Schritt auf dem Weg zum „kernkraftorientierten Exekutivstaat“, folgerte der SPD-Rechtsexperte Klaus Warnecke. Erstmals in der Bundesrepublik werde „Gesinnungsgewahrsam in Form einer Polizeihaft für vermutete Taten“ eingeführt, rügte der Grüne Bäumer. Für Stoiber jedoch stand außer Zweifel, „dass es rechtstaatlich ist“. Denn immerhin liege die Entscheidung über die vorläufige Verwahrung bei einem Amtsrichter. Unerwähnt ließ der Minister, dass der Einzelrichter bei starkem Anfall von „Störern“ kaum genügend Zeit haben dürfte, Beweise zu prüfen, dass es zu einer Überschwemmung der kleinen Gerichte kommen könnte. Schon bei groben Ordnungswidrigkeiten sollen die „Schutzmaßnahmen zur Gewährleistung des inneren Friedens“ laut Gesetzestext greifen. Dazu genügt etwa die Nichtbefolgung eines Platzverweises. Oder das Mitführen von „Werkzeugen oder anderer Gegenständen, die erfahrungsgemäß für eine Straftat bestimmt sind“. Oder ein als Vermummung erkennbarer Schal vor dem Mund. Selbst Begleitpersonen des „Störers“ könnten mit abgeführt und zwecks „Unterbindung einer Straftat“ eingesperrt werden. Bayern first. Was die Regierung des Freistaats seinerzeit unter dem Eindruck einer gewissen Rechtsunsicherheit bei den WAA-Verfahren (die meisten endeten übrigens mit Freispruch) vorexerziert hat, haben inzwischen fast alle Bundesländer übernommen. Allerdings weit weniger rigoros. Fast alle diese Gestze stellen hohe Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit, und vor allem legen sie eine Höchstdauer für den Gewahrsam fest. In Bayern indes (und in Schleswig-Holstein) dürfen Personen unbegrenzt lange eingesperrt werden. Auf die allgemeine Rechtslage berief sich auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, als er zum G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 die Demonstranten warnte, „gewaltbereite Chaoten“ unter ihnen könnten schon im Vorfeld festgehalten und bis zu 14 Tage in „Unterbindungsgewahrsam“ genommen werden. Auch beim Aufmarsch von Rechtsradikalen droht die Polizei potenziellen Teilnehmern von Gegendemos immer wieder Unterbindungshaft an. (Karl Stankiewitz) Der Beitrag stützt sich auf zwei Bücher des Autors; „Babylon in Bayern“ und „Weißblaues Schwarzbuch“

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