Leben in Bayern

Carola Gerhardinger im Sammellager in Radymno, knapp 20 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. (Foto: LandsAid)

04.03.2022

Helfen bis zur Erschöpfung

Die Münchnerin Carola Gerhardinger von der Hilfsorganisation LandsAid sondiert an der polnisch-ukrainischen Grenze die Lage, um die Menschen vorort ganz gezielt unterstützen zu können

Es sind vor allem ukrainische Frauen und Kinder, die bei Minusgraden stundenlang an der Grenze zu Polen ausharren müssen. Ohne Versorgung, genügend Nahrung oder Trinkwasser. Die Münchner Krankenschwester und Sozialarbeiterin Carola Gerhardinger von LandsAid, einer Hilfsorganisation aus Kaufering, hat sich Anfang der Woche in die Grenzregion aufgemacht, um die polnischen Ehrenamtlichen vor Ort bei der Versorgung von Geflüchteten zu unterstützen.

Gerade ist ein Bus von der polnisch-ukrainischen Grenze angekommen. An die 100 Menschen steigen aus, die meisten sind Frauen und Kinder. Sie haben Koffer und Rucksäcke dabei. Einige Kinder weinen. Die Erschöpfung stehe diesen Menschen ins Gesicht geschrieben, sagt Carola Gerhardinger am Telefon. Sie ist an diesem Dienstag an dem Auffanglager in Polen angekommen.

Die Krankenschwester und studierte Sozialarbeiterin aus München ist Teil eines Sondierungsteams von LandsAid, einer Hilfsorganisation aus Kaufering. Mit dabei sind auch Mitarbeitende zweier weiterer kleinerer Organisationen – von den Drei Musketieren Reutlingen und dem Frankenkonvoi aus Fürth. „Wir bewerten die Lage vor Ort und entscheiden dann, wie wir am besten und schnellsten helfen können“, sagt Gerhardinger. In den vergangenen Jahren war die 39-Jährige in Haiti, Kenia, Nepal und Pakistan im Einsatz. Nun ist es das Grenzgebiet von Polen und der Ukraine.

Viele hoffen, schnell in die Heimat zurückzukehren

Polen ist das Land, in das die meisten Menschen aus der Ukraine fliehen, um sich vor dem russischen Angriff auf ihre Heimat in Sicherheit zu bringen. Am Mittwoch sprach Polens stellvertretende Innenminister Pawel Szefernaker bereits von 450 000 Flüchtenden insgesamt.

Als Stützpunkt für ihren Einsatz hat sich LandsAid für Radymno entschieden, eine kleine Stadt, knapp 20 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt. Aufgrund persönlicher Kontakte eines Mitarbeiters habe man schnell Zugang zu den Behörden Radymnos und dem Bürgermeister gefunden, berichtet Geschäftsführer Sven Weber. Angereist ist das Team mit Lieferwagen, die vollgeladen sind mit Decken und Verbandsmaterial. Auch medizinisches Personal und die Ausrüstung für eine Feldküche sind dabei.

Gerhardinger hat die ersten Stunden seit ihrer Ankunft genutzt, um sich einen ersten Eindruck von der Lage vor Ort zu verschaffen. Und sie ist beeindruckt. „Es ist unglaublich, was die Menschen hier binnen weniger Tage auf die Beine gestellt haben“, sagt sie. „Viele engagieren sich ehrenamtlich.“ Da sind die Geschäftsleute, die ihre Lager kurzerhand leer geräumt haben, um dort Betten und Liegen aufzustellen, damit die Flüchtenden einen Ort haben, um sich auszuruhen. Private Busunternehmen übernehmen den Transport, ein Döner-Imbiss-Besitzer versorgt die Menschen kostenlos mit Essen. Auf langen Bankreihen stapeln sich Windeln, Hygieneartikel, Schlafsäcke und warme Kleidung. Spenden aus der Bevölkerung werden von Ehrenamtlichen an die Flüchtlinge verteilt. „Das ist alles schon wirklich gut organisiert“, sagt Gerhardinger.

Aber sie sieht auch, wie müde viele der Ehrenamtlichen wirken. „Kein Wunder“, sagt sie. „Die arbeiten seit Tagen durch.“ Es sei nun eine der wichtigsten Aufgaben, die Menschen vor Ort zu entlasten und zu unterstützen.
Die Situation in Radymno ähnelt denen an den anderen Grenzübergängen. Zehntausende Menschen kommen an, bleiben ein, zwei Tage, und reisen dann weiter. Viele werden von Verwandten abgeholt. Schon vor dem Krieg lebten rund 1,5 Millionen Ukrainer in Polen. Nur wenige reisen bisher in andere europäische Länder weiter, auch, weil sie die Hoffnung haben, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. Offiziell sind in Deutschland bisher nur rund 5000 Kriegsflüchtlinge angekommen. Da die EU-Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, könnten es aber auch wesentlich mehr sein, hieß es am Dienstag aus dem Bundesinnenministerium. Wie viele es werden könnten, könne derzeit niemand seriös voraussagen.

Die Vorbereitungen für die Aufnahme von Flüchtlingen laufen auf Hochtouren, auch in Bayern. Und auch hier ist die Hilfsbereitschaft enorm. Hilfsgüter werden gesammelt, Hilfstransporte sind auf dem Weg, und bei den Landratsämtern melden sich immer mehr Menschen, die bereit sind, Flüchtlinge in Ferienunterkünften oder im eigenen Haus aufzunehmen. Im Kreis Regen etwa gab es bis Anfang der Woche schon rund 50 entsprechende Angebote. Städte wie Augsburg haben Infoseiten in ukrainischer Sprache und eine Hotline geschaltet, in Bamberg hat das Festival-Team der Kurzfilmtage kurzerhand Hilfsgüter gesammelt und in die Grenzregion transportiert, in Regensburg beteiligen sich 40 Gastronom*innen an einer Spendenaktion, in Marktsteinach im Landkreis Schweinfurt sammelt die Freiwillige Feuerwehr Verbandsmaterial. Es gibt unzählige Beispiele wie diese, und täglich werden es mehr.

Zurück in Radymno. Carola Gerhardinger hat viel zu tun. Es stehen Gespräche mit den Behörden vor Ort und anderen Hilfsorganisationen an. In der Stadt war sie bereits, ebenso in einem Ankunftslager etwa drei Kilometer von der Grenze entfernt. Jetzt will sie noch direkt an die Grenze. Polen hat seine Grenzen geöffnet. „Alle Flüchtlinge werden aufgenommen, auch ohne gültige Dokumente“, heißt es von der regionalen Grenzbehörde. Die Kontrolle würde nur wenige Minuten dauern.

Und doch haben sich an den Grenzübergängen Staus von bis zu 20 Kilometern gebildet. Männer im wehrpflichtigen Alter dürfen die Ukraine aufgrund der Generalmobilmachung nicht verlassen. Viele bringen ihre Familien so nahe wie möglich an die Grenze, suchen eine Mitfahrgelegenheit für ihre Frauen und Kinder – und fahren dann zurück.

Und so sind es vor allem Frauen und Kinder, die nun bei Minustemperaturen vor den Grenzkontrollen ausharren müssen. Ohne Versorgung und ohne genügend Nahrung oder Trinkwasser. 30 Stunden und länger haben sie gewartet, berichten die, die es dann endlich geschafft haben. Es heißt, dass auf ukrainischer Seite die Computer immer wieder ausfallen würden. Und dass jeder Flüchtling registriert werde und es deshalb so lange dauere.

Im Vordergrund steht die medizinische Versorgung

In dem Auffanglager auf der polnischen Seite, in das die Flüchtlinge gebracht werden, die es über die Grenze geschafft haben, können sich die Menschen zumindest kurz von den Strapazen ihrer Flucht erholen. Sie sehe sehr viel Entschlossenheit, sagt Gerhardinger. „Die Menschen sind beschäftigt, sich und ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.“ Die traumatischen Folgen der Flucht, die kämen später.

Die Hilfsorganisation aus Kaufering plant derweil weitere Einsätze in der Grenzregion. Die medizinische Versorgung der Flüchtlinge steht dabei im Vordergrund. Mobile Einsatzzelte sollen in die Region gebracht werden, dazu Medikamente und medizinische Versorgungsartikel. Was den Erste-Hilfe-Bedarf angehe, seien die Grenzregionen wie „leer gefegt“, sagt Geschäftsführer Weber. In den sogenannten mobilen Kliniken sollen die Kranken und Verletzten professionell behandelt werden. „Wir gehen zunächst von einer medizinischen Grund- und Erstversorgung aus“, so Weber. „Nach unseren Informationen sind es hauptsächlich Schnittverletzungen und Fußwunden, die akut behandelt werden müssen.“ Noch Ende der Woche soll sich ein entsprechender Hilfstransport auf den Weg machen.
(Beatrice Oßberger)

Foto (LandsAid): Liegen für Geflüchtete im Einkaufszentrum

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