Vergangene Woche holten Polizisten in Nürnberg einen Berufsschüler aus dem Unterricht: Der junge Mann aus Afghanistan sollte abgeschoben werden, obwohl er eine Ausbildungsstelle sicher in der Tasche hatte. Auch der 18-jährige Hasibullah Quadir hat die feste Zusage für eine Lehrstelle – wie viele andere seiner Landsleute macht er sich nun große Sorgen: Darf er in Bayern bleiben?
Terror in London, Klimaabkommen gescheitert, Kriege über Kriege und Ungerechtigkeit in vielen Teilen der Erde – es gibt nicht wenige Deutsche, die sagen, ihnen machten die aktuellen TV-Nachrichten Angst. Doch zum Glück sind die meisten Menschen hierzulande von den jüngsten Horrormeldungen nur indirekt betroffen.
Nicht so Hasibullah Quadir – als er vor einiger Zeit nichts ahnend den Fernseher anschaltete, hat er seinen Augen nicht getraut: Plötzlich habe er in einem Fernsehbericht über einen Anschlag in Afghanistan das Geburtshaus seiner Eltern gesehen. „Das Haus war intakt. Auch meinen Eltern war nichts passiert – aber der Schock war groß“, sagt der junge Mann aus Kundus rückblickend.
Gerade erst hatte der 18-jährige Flüchtling, der seit zwei Jahren in München lebt, dann beim abendlichen Fernsehen wieder ein Negativerlebnis: Über den Bildschirm flimmerte ein Bericht über einen 21-jährigen Landsmann Quadirs. Polizisten hatten den jungen Mann in Nürnberg vergangene Woche im laufenden Unterricht in Abschiebegewahrsam genommen – daraufhin kam es zu massiven Tumulten zwischen den Sicherheitskräften auf der einen und zahlreichen Schülern sowie hinzugekommenen Jugendlichen auf der anderen Seite.
Nicht nur Quadir ist über das Vorgehen der Polizei entsetzt. Der 18-Jährige aus Kundus und Hunderte andere Menschen haben sich deshalb Ende vergangener Woche vor dem bayerischen Kultusministerium versammelt. Unweit des Münchner Odeonsplatzes, wo 2015 Zehntausende für eine humane Flüchtlingspolitik demonstrierten, wollten sie ein Zeichen gegen die aus ihrer Sicht zu unmenschliche Abschiebepolitik der CSU-Regierung setzen.
Auch Thomas Meier ist gekommen. Eigentlich ist der Münchner ein ruhiger Mann. Doch wenn man ihn auf die derzeitige bayerische Abschiebepraxis anspricht, poltert der 71-Jährige los: Die bayerische Staatsregierung habe in Nürnberg eine Grenze überschritten. Er ist überzeugt: „Einen Jugendlichen von der Polizei aus der Schule holen lassen – das geht gar nicht.“ Man lasse doch „auch keine Mofa-Diebe vor der Klasse abführen“, sagt der Mann, der Sakko, Hemd und Anzughose trägt. Anstatt es sich mit einer kühlen Maß in einem der nahe gelegenen Biergärten gemütlich zu machen, lässt er den warmen Abend deshalb zwischen Fahnen und Transparenten ausklingen.
Mehrere Organisationen, darunter der Bayerische Flüchtlingsrat, haben zum Protest aufgerufen. Ein Redner brüllt ins Mikrofon: „Wer Schüler aus Klassenzimmern zur Abschiebung holt, ist ein Anti-Christ.“ Applaus brandet auf. Ein Polizist an der Seite des Menschenpulks verdreht die Augen angesichts solcher Beschimpfungen seiner Kollegen.
Viele Parteifahnen werden geschwenkt. Doch anders als noch vor einigen Wochen sind diesmal neben Linken, Grünen und Flüchtlingsaktivisten auch Menschen gekommen, die der CSU eigentlich eher wohlwollend gegenüberstehen.
Quadir erscheint es riskant, die Berufsschule zu beenden
Eine ältere Frau im Trachtenhemd beobachtet das Treiben interessiert aus dem Hintergrund. Eigentlich finde sie Bayerns Innenminister Joachim Herrmann „wirklich gut“. Doch über den Nürnberger Polizeieinsatz sagt die Münchnerin: „So ein Schmarrn. Warum schieben die denn Leute ab, die arbeiten wollen?“ Tatsächlich hatte der 21-jährige Afghane aus Nürnberg bereits eine Ausbildung als Schreiner in der Tasche, lernte an der Berufsschule bereits das nötige Fachwissen.
Auch Hasibullah Quadir hat, wie er sagt, seine Ausbildung schon sicher. Eine Lehre zum Polsterer werde er machen, erzählt der 18-Jährige. Nach zwei Praktika habe die Chefin des Betriebs gesagt, sie wolle, dass er bei ihr anfange. Eigentlich müsste Quadir, der bereits gut deutsch spricht, noch sein Berufsschuljahr fertig machen. „Doch jetzt habe ich Angst“, sagt der junge Mann, der seit zwei Jahren in München lebt. Vielleicht fängt er die Lehre deshalb früher an.
Glaubt man Flüchtlingsaktivisten, schützt im Süden der Republik trotz anderslautender Ankündigungen im politischen Berlin nicht einmal ein Ausbildungsplatz vor einer Abschiebung. „Bayern schiebt vor allem gut integrierte Leute ab“, ruft ein Redner den Demonstranten entgegen. Die Menge pfeift. „Wellness in Kabul – wir laden Sie herzlich ein, Herr de Maizière“, steht auf einem der Transparente.
In weiten Teilen Deutschlands wurden zuletzt gar keine Afghanen – oder zumindest nur Straftäter – in Richtung Hindukusch abgeschoben. Anders in Bayern: Stephan Dünnwald, Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats, kritisiert, fast niemand der ihm zufolge seit Dezember aus dem Freistaat ausgeflogenen 39 Flüchtlinge habe eine Straftat begangen. „Der Großteil der Afghanen war gut integriert.“ Viele seien trotz Job, begonnener Lehre oder einer Ausbildungszusage abgeschoben worden. „Selbst ein Afghane in Kulmbach im zweiten Lehrjahr wurde nicht verschont.“
Sieht so die noch im Sommer 2015 weltberühmte bayerische Gastfreundschaft aus? Ein Sprecher des Innenministeriums wird Dünnwald später widersprechen: „Bei den seit Dezember 2016 mit den Sammelchartern nach Afghanistan zurückgeführten afghanischen Staatsangehörigen handelt es sich ausschließlich um alleinstehende, volljährige und mitunter auch straffällige Männer.“ Ein abgeschobener Afghane sei beispielsweise wegen einer Gewalttat zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Zum Zeitpunkt der jeweiligen Abschiebungen habe sich kein Betroffener in einem vom „Aufenthaltsgesetz zu berücksichtigenden Ausbildungsverhältnis“ befunden.
Kritik kommt längst auch von aus CSU-Sicht ungewohnter Seite. Das unberechenbare Vorgehen der bayerischen Ausländerbehörden rufe unter den bayerischen Unternehmern große Verunsicherung hervor, warnte jüngst der bayerische Landesverband des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft. Es sei „vollkommen verständlich, dass Unternehmen den Aufwand eines Ausbildungsvertrags mit Flüchtlingen scheuen, wenn ihr Auszubildender jeden Moment abgeschoben werden kann“.
IHK: Die Verunsicherung in der Wirtschaft ist riesig
Groß ist der Ärger deshalb insbesondere in Ostbayern. Da ist etwa der 18-jährige Afghane aus Regensburg, der bereits eine Zusage als Bäckerlehrling hatte. Dennoch bekam er nicht einmal eine befristete Arbeitserlaubnis. Er sei fleißig, freundlich, motiviert laut Mittelbayerischer Zeitung an die zuständige Regierungsstelle – doch die ließ sich nicht erwärmen.
„An der Berufsschule Cham haben wir 35 Schüler, die ihr Berufsintegrationsjahr abschließen. 22 davon sind Afghanen“, warnte Jürgen Helmes, Hauptgeschäftsführer der IHK Regensburg. Für zwei Drittel der Absolventen werde es also keine Ausbildungsperspektive geben. „Gleichzeitig sind in Cham 200 Ausbildungsstellen nicht besetzt. Das versteht dann keiner mehr.“
Doch auch aus Baden-Württemberg und Sachsen gab es zuletzt Meldungen, dass gut integrierte Afghanen in Richtung Hindukusch ausgewiesen werden sollen. „Leider hören wir nach wie vor von unseren Handwerksbetrieben, dass Flüchtlinge trotz gültigem Ausbildungsvertrag oder während eines Praktikums abgeschoben werden“, sagte Hans Peter Wollseifer, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, der Mittelbayerischen Zeitung. Dies gelte vor allem für die südlichen Bundesländer. „Die Handwerker, die sich mit jungen Flüchtlingen bisher große Mühe geben, sind dadurch sehr verunsichert“, kritisiert er. Afghanen seien besonders betroffen, gerade sie würden im Handwerk aber als lernbegierig und zuverlässig gelten.
Den Münchner Meier ärgert das ebenfalls. Der Rentner will bald wieder demonstrieren.
(Tobias Lill)
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