Leben in Bayern

Die Münchnerin Fatima Talal-Saber (20) will ein Vorbild für andere Flüchtlinge sein. Foto: Christina Falkenberg

10.06.2011

"Ich will der Gesellschaft etwas zurückgeben"

Eigentlich sollte die Irakerin Fatima Talal-Saber abgeschoben werden – jetzt hat die Schülerin sogar ein Elite-Stipendium bekommen

Der 18. Geburtstag war für Fatima Talal-Saber ein Schock: Zu jener Zeit bekam sie den Bescheid, dass sie ausgewiesen werden soll, zu Verwandten in den Irak – in ein Land ohne Zukunft, die Heimat ihrer Eltern, wo Fatima nie gelebt hatte, da sie auf der Flucht, im iranischen Esfahan, geboren worden ist.
Während ihre Eltern und Geschwister eine befristete Aufenthaltsgenehmigung erhielten, da ihre psychischen Probleme, Folgen der Flucht, nur in Deutschland behandelt werden können, lief bei Fatima wohl alles zu gut: Sie spricht fließend Deutsch, hatte sich bis aufs Gymnasium hochgekämpft, engagierte sich. Die Angst vor der Ausweisung, der verwirrende Schwebezustand, dauerte zwei Monate lang. Eine Anwältin setzte dann doch noch eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung durch.


Fast ertrunken auf der Flucht


Mit dem Papier konnte Fatima sich im vergangenen Jahr endlich für das Stipendium „Talent im Land Bayern“ (TiL) bewerben – denn der dauerhafte Aufenthalt in Deutschland ist dafür Voraussetzung. Das Programm des bayerischen Kultusministeriums und der Robert Bosch Stiftung fördert begabte junge Menschen aus Zuwandererfamilien auf dem Weg zum Abitur oder Fachabitur mit finanzieller Unterstützung, einem umfangreichen Weiterbildungsangebot und karrierefördernden Kontakten.
„Wir unterstützen tolle Persönlichkeiten mit herausforderndem sozialen Hintergrund“, sagt Tobias Haaf vom Referat für Integrationsfragen des Kultusministeriums. Gute Noten sind zwar wichtig, doch ausschlaggebend sind das Leistungspotenzial, das gesellschaftliche Engagement und die individuelle Biografie. 200 bis 250 Interessenten bewerben sich pro Jahr, nur 30 bis 50 werden ausgewählt – und Fatima hat es unter die 30 neuen Stipendiaten geschafft.
Ihren bisherigen Weg bei der Bewerbung in einem dreiseitigen Lebenslauf zu beschreiben, war für die inzwischen 20-Jährige eine schwierige Herausforderung – denn sie hat schon zu viel erlebt. Fatimas Eltern sind Iraker, sie flüchteten in den Iran, da der Vater als Journalist zu offen geschrieben hatte, was er dachte. Eine Aufenthaltsgenehmigung erhielt die Familie im Iran, Fatimas Geburtsort, nie. Der erste Golfkrieg hatte ab 1980 tiefe Gräben zwischen Iran und Irak gezogen.
In der Schule merkte Fatima nichts von dem Hass, doch sie erinnert sich, dass manche Iraner auf der Straße „Iraker raus“ gebrüllt hätten. Als sie in der dritten Klasse war, musste die Familie den Iran verlassen, gelangte erst nach Kurdistan, dann ging es immer weiter. Dreieinhalb Jahre war Fatima mit ihren Eltern und den jüngeren Geschwistern auf der Flucht.
Als ein Schlauchboot voller Flüchtlinge bei einer Flussüberquerung einmal kenterte, wäre Fatima fast ertrunken – ein Mann konnte die damals Elfjährige gerade noch mit einem Ast ans Ufer ziehen. Fatima schrie und weinte, da sie dachte, ihre Familie sei tot, der Flüchtling hielt ihr den Mund zu, aus Angst, entdeckt zu werden.
Doch Fatimas Vater, der als Einziger schwimmen konnte, hatte es geschafft, den Rest der Familie ans andere Ufer zu ziehen. Auch Fatimas kleiner Bruder hätte die Flucht fast nicht überlebt. Nach einer 24-stündigen Nachtwanderung durch die Berge war der Körper des Babys starr vor Kälte, die Eltern konnten ihn gerade noch rechtzeitig aufwärmen. Wo genau die Route der Familie verlief, weiß Fatima nicht – auf jeden Fall durch Länder wie Iran, Kurdistan, Türkei, Griechenland, Italien.


Anruf beim Gymnasium


„Immer hin und her“, wie sie sagt. Die Familie wurde von einem Land ins andere ausgewiesen. Ein paar Tage mussten die Flüchtlinge zwischendurch auf der Straße übernachten, ein paar Tage waren sie in der Türkei inhaftiert.
Als Fatima zwölf Jahre alt war, gelang der Familie die Flucht nach Deutschland, in einem Lastwagen mit anderen zusammengepfercht kamen sie über die Grenze. „Wir haben nicht mitbekommen, wo wir waren“, erinnert sich Fatima. Sie mussten immer leise sein. Als Fatimas Schwester bei einem Zwischenstopp in einer Wohnung niesen musste, waren die Schlepper sauer.
Irgendwo in Deutschland wurden die Flüchtlinge abgeladen, die Familie fuhr mit dem Zug nach München. Eine Aufenthaltsgenehmigung erhielten sie nicht, aber zumindest zwei Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft. Und die Kinder konnten endlich wieder zur Schule gehen.
Ein Grundschuljahr absolvierte Fatima noch in einer Übergangsklasse, in der Zweit-, Dritt- und Viertklässler zusammengewürfelt wurden, alles wiederholt und der Unterricht viel einfacher gestaltet wurde. „Es war eine harte Zeit zu wissen, dass ich nichts kann“, sagt Fatima. Mittlerweile hat sie es in die 11. Klasse geschafft, ist eine der Klassenbesten und macht im kommenden Jahr ihr Abitur – danach will sie Medizin studieren.
Diesen Plan fasste sie schon während der Flucht, doch ihr war klar, dass sie ohne Gymnasium keine Chirurgin werden kann. „Die Lehrer waren alle dagegen, aber ich wusste, dass ich es schaffe, weil ich so ehrgeizig bin.“ Aus einer Telefonzelle rief Fatima in gebrochenem Deutsch beim Lion-Feuchtwanger-Gymnasium in München an und überzeugte das Kollegium, ihr eine Chance zu geben.
Viele Kinder aus Zuwandererfamilien schaffen diesen Sprung nicht – dem Migrationsbericht der Bundesregierung zufolge gehen Schüler mit Migrationshintergrund deutlich seltener auf Gymnasien und sind überproportional häufig auf Hauptschulen vertreten. Gerade Flüchtlinge wie Fatima kämpfen mit Sprachbarrieren, Bildungslücken, oft komplizierten familiären Situationen, Geldproblemen und beengten Wohnverhältnissen.


Zu dritt in einem Zimmer


Fatima muss oft warten, bis ihr 14-jährige Bruder Mohamad und ihre 17-jährige Schwester Zahraa eingeschlafen sind, bevor sie ihre Hausaufgaben erledigen kann – sie teilen sich zu dritt ein Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge. Jeder hat eine Ecke für sich, Fatima besitzt einen Schreibtisch und viele Bücher.
An den Wänden hängt ein altes Bravo-Poster, Postkarten, Fotos und ein von Fatima gezeichnetes Bild – ihr Name in arabischen Buchstaben auf einem pinken Hintergrund. Die Leinwand hat sie sich von den 100 Euro gekauft, die sie als TiL-Stipendiatin monatlich für Bildungsausgaben erhält. Ein Luxus für Fatima – sie hat im Theater Der zerbrochene Krug gesehen, kauft Bücher für die Schule wie Lernhilfen ein oder eben Leinwände und Farben.
Wichtiger als das Geld findet sie aber, dass sie durch das TiL-Stipendium die Gelegenheit hat, junge Menschen zu treffen, die eine ähnliche Geschichte haben wie sie und die von der deutschen Migrationsdebatte deshalb betroffen sind, weil sie sich immer angestrengt und versucht haben, sich zu integrieren. „Ich wollte immer gut sein, damit ich der Gesellschaft später etwas zurückgeben kann“, sagt Fatima.
Manche der Stipendiaten sind erst 15, viele 17, eine junge Frau ist 24 und hat zwei Kinder. Einige sind in Deutschland geboren, andere in Russland, der Türkei, Iran, Albanien, afrikanischen Ländern, ein Junge kam erst vor einem Jahr aus Afghanistan. Die Stipendiaten können aus einem Bildungsangebot wählen – Podiumsdiskussionen, Seminare oder Studienreisen.
Fatima hat bei einem zweitägigen Coaching durch spielerische Gruppenübungen Teamarbeit und Verantwortung trainiert, an einem Seminar über interkulturelle Kompetenzen teilgenommen, bald wird sie eine Beratung für Studienplanung und Lernstrategien besuchen. Mit Unterstützung der Stiftung kann sie sich auch einen neuen Laptop leisten.
Die Stipendiaten von „Talent im Land Bayern“ sollen auch andere dabei unterstützen, ihren Weg zu finden, alle sind gesellschaftlich engagiert. Fatima gibt Flüchtlingskindern seit Jahren Nachhilfe – denn sie weiß, wie sehr ihr die Hausaufgabenbetreuung geholfen hat. „Ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, dass man von Anfang an gefördert wird“, sagt sie. Auch an zwei anderen Projekten arbeitet sie: Mit Freunden möchte sie an Schulen zwischen Zuwandererfamilien, Schülern und Lehrern vermitteln.
Fatima kennt das Gefühl, als Einzige in der Klasse zu Elternsprechtagen mitzugehen – um zu übersetzen. Neuankömmlinge in Flüchtlingsunterkünften will sie außerdem durch Vorträge und Gespräche über das Leben in München und ihre Rechte und Pflichten informieren. Sie sollen es leichter haben, sich in dem neuen Zuhause zurechtzufinden.


Heimatstadt München


Fatima hat sich in München eingelebt, hier hat sie am Längsten gelebt. „In Formularen schreibe ich bei der Staatsbürgerschaft irakisch hin – aber ich war doch noch nie dort“, sagt die 20-Jährige. „Manchmal weiß ich nicht, wie ich mich fühlen soll.“ Sie hat weder einen irakischen oder iranischen, noch einen deutschen Pass, stattdessen muss sie immer wieder auf eine Verlängerung ihrer befristeten Aufenthaltsgenehmigung hoffen. München ist für sie trotzdem der Ort, der sich am meisten nach Heimat anfühlt – denn Fatima glaubt daran, dass hier ihre Zukunft liegt. (Sonja Peteranderl)

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