Leben in Bayern

Hannelore Penzkofer leitet eine Polio-Selbsthilfegruppe. (Foto: Stumberger)

04.12.2020

Im Corona-Dilemma

Selbsthilfegruppen dürfen sich zwar unter strengen Auflagen noch treffen – doch viele Mitglieder gehören zur Risikogruppe, zudem fehlen geeignete Orte

Über zwei Monate ist es jetzt her, dass sich die Selbsthilfegruppe von Hedwig Hagg das letzte Mal traf. Im Biergarten des Münchner Hofbräukellers. „Es war schönes Wetter“, erinnert sich die 65-Jährige. Draußen zu sitzen, das geht längst nicht mehr. Und so bleiben die gut ein Dutzend Mitglieder der Dystonie-Gruppe lieber zu Hause. Sie wollen wegen Corona kein Risiko eingehen. „Die Situation ist schlimm“, sagt Hagg. „Viele sind sehr einsam.“ Bei den Telefonaten habe sie auch schon mal geweint.

Dystonie ist eine Bewegungsstörung, die unterschiedliche Formen annehmen kann. Die Krankheit kann man nicht heilen, aber lindern. Ein wirksames Mittel zur Behandlung sind Botulinumtoxin-Spritzen, die im Dreimonatsrhythmus verabreicht werden. Aber coronabedingt gebe es in den Kliniken hier Probleme, erklärt Hagg, die selbst an einer sogenannten Torticollis, einem Schiefhals, leidet. „Ich komme zurecht, kann den Alltag meistern.“ Schlimm aber sei es, wenn die Menschen, die an Blepharospasmus, einem Lidkrampf, leiden, kein Medikament bekämen, betont Hagg. Denn diese seien dann praktisch blind, weil sie die Augenlider nicht heben können.

Einmal im Monat trifft man sich normalerweise in der Selbsthilfegruppe, macht auch gemeinsam Ausflüge – zum Bauernhofmuseum am Starnberger See zum Beispiel oder zu einem Picknick in Augsburg. Sich gegenseitig aufbauen und von den Leiden abzulenken, steht im Vordergrund, was aktuell jedoch äußerst schwierig ist. Zwar sind Treffen von Selbsthilfegruppen offiziell erlaubt. Aber die Gaststätten sind zu und Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wollen gerade die Älteren lieber vermeiden. Die Folge: Einsamkeit, die oft depressiv mache, wie Hagg, Vorsitzende der Deutschen Dystonie Gesellschaft, erklärt. Sie hat deshalb ein Nottelefon eingerichtet. Außerdem gibt es eine Telefon-Online-Gruppe, in der sich die Mitglieder austauschen können. „Das A und O aber sind persönliche Treffen.“ Ohne diese fühlten sich viele hilflos.

Die psychische Unterstützung steht bei den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe von Hannelore Penzkofer dagegen nicht ganz so sehr im Vordergrund. „Man nennt uns die sanften Krieger“, sagt die 72-jährige Münchnerin, Sprecherin des Bundesverbands Polio e.V.. Sie leitet eine Gruppe mit 104 Mitgliedern, die gemeinsam haben, dass sie an Kinderlähmung erkrankt waren und heute mit körperlichen Einschränkungen leben müssen. Viele haben lange Krankenhausaufenthalte hinter sich und nicht selten sind sie durch diese Erfahrung psychisch robuster geworden. Im Vordergrund bei den Treffen der Selbsthilfegruppe steht deshalb der Erfahrungs- und Informationsaustausch – vor allem über Heil- und Hilfsmittel.

Selbsthilfezentrum hilft bei Online-Angeboten

Vor Corona traf sich die Polio-Gruppe einmal im Monat in einem Raum des Bogenhausener Krankenhauses. Denn dort gibt es Parkplätze und viele Mitglieder sind gehbehindert. Immer wieder wurden auch Referenten eingeladen, zum Beispiel zum Thema Schmerztherapie. Doch in die Klinik kann die Gruppe nicht mehr. Auch die jährliche Gruppenreise nach Südtirol fiel dieses Jahr aus.S Stattdessen kommunizieren die Mitglieder ausschließlich über das Internet.

In ihrem Giesinger Wohnzimmer klappt Hannelore Penzkofer ihr Laptop auf. „Eine ganz, ganz positive Erfahrung ist das“, sagt sie, während sie Kontakt zu den Mitgliedern aufnimmt. Neulich seien 14 Leute per Video und vier über Telefon mit dabei gewesen. Möglich wurde das durch Schulung und technische Unterstützung vom Selbsthilfezentrum im Münchner Westend.

Dort erklärt Geschäftsführer Klaus Grothe-Bortlik die aktuelle Corona-Regelung für Selbsthilfegruppen: „Suchtgruppen dürfen sich weiterhin treffen, sonstige Gruppen unter einer fachlichen Leitung.“ Wobei „fachlich“ auch eine langjährige Erfahrung in der Leitung einer Gruppe bedeuten kann. Prinzipiell stünde einem Zusammenkommen unter Einhaltung von Abstands-, Mundschutz- und Hygieneregeln also nichts entgegen. Aber: „Viele Gruppen treffen sich nicht, weil sie sich als Risikogruppe sehen“, so Geschäftsführer Grothe-Bortlik.

Grundsätzlich sei die Situation bei den Selbsthilfegruppen aber grundverschieden, sagt der Experte. Manche kämen gut zurecht, andere hätten massive Probleme. An die 250 Selbsthilfegruppen treffen sich normalerweise unter dem Dach des Zentrums. Das sei jetzt aber wegen fehlender großer Räumlichkeiten, in denen Abstände eingehalten werden können, schwierig. Viele Gruppen haben deshalb, wie die Polio-Gruppe, das digitale Angebot des Selbsthilfezentrums angenommen.

Über eines ist Grothe-Bortlik aber doch erstaunt: dass sich auch in Corona-Zeiten neue Gruppen bilden. Mehr als 20 Neugründungen verzeichnete das Selbsthilfezentrum in den vergangenen Wochen. Das Zentrum berät seit 35 Jahren in Sachen Selbstorganisation und hilft bei der Gründung von Gruppen. „Selbstverletzendes Verhalten“ und „EWA – Endlich Wohnung und Arbeit“ sind zwei der neuen Angebote. Ein anderes heißt „Ich esse mich frei“ – und richtet sich an übergewichtige Frauen.
(Rudolf Stumberger)

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