Leben in Bayern

Im Büro von Claus Fussek stapeln sich die Fälle. An der Wand ein Bild seines verstorbenen Freundes Dieter Hildebrandt. (Foto: Stumberger)

26.01.2018

Kämpfer für die Menschenwürde

Claus Fussek ist der bekannteste und schärfste Pflegekritiker des Landes – zu seinem 65. Geburtstag zieht er eine bittere Bilanz

Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sich Claus Fussek mit Missständen in der Altenpflege. 2008 wurde ihm für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz verliehen. Doch am Pflegenotstand in Deutschland hat sich kaum etwas geändert, klagt der Sozialpädagoge und Autor zahlreicher Fachbücher. Trotzdem: Fussek wird weiterkämpfen für Verbesserungen in der Pflege – auch als Rentner. Ein Gebäude im Hinterhof in der Münchner Klenzestraße: Im Erdgeschoss sitzt Claus Fussek mit Headset – er telefoniert. Am anderen Ende der Leitung: Angehörige von Pflegebedürftigen, Krankenschwestern oder Altenpfleger. Sie alle klagen Fussek ihr Leid. Er wird es an die Öffentlichkeit bringen.

Fussek, Sozialpädagoge und Buchautor, kämpft seit vielen Jahren für Verbesserungen in der Pflege. „Pflegekritiker“ wird er deshalb genannt. Oder gar „Pflegepapst“. Am 1. Februar wird Fussek 65 Jahre alt und seine Bilanz ist mehr als ernüchternd. Denn er sagt: „Es hat sich nicht wirklich viel gebessert.“

So viel hat er gesagt, dass er gar nicht mehr reden mag

Die Aufzählung von Fusseks Forderungen liest sich wie eine Liste von Selbstverständlichkeiten: Jeder soll täglich seine Mahlzeiten und ausreichend Flüssigkeit in dem Tempo erhalten, in dem er kauen und schlucken kann. Jeder kann sooft er es wünscht auf die Toilette. Jeder soll täglich gekämmt, gewaschen und angezogen werden. Jeder muss täglich die Möglichkeit haben, das Bett zu verlassen. Jeder soll sich seinen Zimmerpartner aussuchen können.

Selbstverständlichkeiten? „Mitnichten!“, sagt Fussek, der bereits 2002 diese Mindestanforderungen für eine menschenwürdige Grundversorgung in Pflegeheimen formuliert hatte. Noch immer sehe die Pflege-Wirklichkeit leider anders aus. Fussek berichtet von wundgelegenen alten Menschen in Heimen, mangelnder Zuwendung, von überfordertem Pflegepersonal, von zu wenig Zeit für die Pflege. „In sehr vielen deutschen Pflegeheimen liegen alte, hilfebedürftige Menschen immer noch stundenlang in ihren Ausscheidungen“, kritisiert Fussek und betont: Windeln oder Dauerkatheter seien als pflegeerleichternde Maßnahmen menschenunwürdig und würden den Tatbestand der Körperverletzung erfüllen.

Natürlich gebe es auch gute Heime mit Vorbildfunktion, räumt Fussek ein. Dort herrsche eine andere Atmosphäre: „Der Krankenstand und die Fluktuation der Mitarbeiter sind viel geringer“, weiß Fussek. Das wirke sich auch auf die Pflege aus. Wenn sich außerdem auch die Angehörigen um die zu Pflegenden kümmern, entstünde eine Art Frühwarnsystem, wodurch Missstände vermieden werden können. Voraussetzung sei freilich, dass sich das Heim in der Nähe zum Wohnort der Verwandten befindet.

Fussek hat seine Kritik und seine Argumente bereits so oft vorgetragen, dass er manchmal gar nicht mehr reden mag. Dann hört der Journalist schon mal: „Ach nehmen Sie doch dieses Interview vor zehn Jahren, da steht alles drin und ist noch immer gültig.“ Aber dann kann er es doch nicht lassen und erklärt, woran das System krankt. Es fange schon bei der Ausbildung des Pflegepersonals an, meint Fussek. „Wegen des Pflegenotstands nehmen die Pflegeschulen alle, die kommen.“ Aber nicht alle seien für diesen Beruf wirklich geeignet.

Nicht immer stößt Fussek mit seiner Kritik auf offene Ohren. Manche werfen ihm vor, er zeige die Pflege nur als Problem, lasse kein gutes Haar daran und stoße die Pfleger damit vor den Kopf. „Welche Bilder und Vorstellungen laufen vor dem geistigen Auge ab, wenn Claus Fussek das Berufsumfeld von Pflegekräften ausschließlich mit schwarzen Farben malt? Wenn er mit unseren allertiefsten Ängsten spielt“, heißt es etwa in einem Kommentar zu einem Vortrag von Fussek auf einer Führungskräftetagung. „Ich sehe mich nicht als Vertreter der Pflegekräfte, sondern der pflege- und schutzbedürftigen Menschen“, erwidert der auf solche Vorwürfe. Und verweist einmal mehr darauf, dass es auch vorbildliche Einrichtungen gebe.

Fussek hat in München an der Katholischen Fachhochschule Sozialpädagogik studiert und 1978 den ambulanten Pflege- und Beratungsdienst „Vereinigung Integrationsförderung“ mitbegründet, in dem er heute noch tätig ist.

Fussek vermisst die Unterstützung Hildebrandts

Das Thema Pflege hat der verheiratete Vater zweier Kinder aber auch in seiner eigenen Familie kennengelernt. Seine Eltern sind mittlerweile beide Pflegefälle: Der 96-jährige Vater und die 87-jährige Mutter wohnen allerdings nicht im Heim, sondern werden in ihrem eigenen Zuhause von einer Frau aus Osteuropa versorgt.

In Fusseks Büro stapeln sich Papiere und Zeitungsausschnitte zum Thema Pflege. An der Wand hängt außerdem ein Bild des verstorbenen Kabarettisten Dieter Hildebrandt. Mit ihm war Fussek freundschaftlich sehr verbunden und auch an seinem Totenbett zugegen. Einen Spruch von Hildebrandt münzt er gerne auf das Pflegesystem um, wobei er auch schon mal von „Pflegemafia“ spricht: „Wer überall die Finger drin hat, kann keine Faust mehr ballen.“

Kurz vor seinem 65. Geburtstag wirkt Fussek ein wenig resigniert, was seinen Kampf gegen Pflegemissstände anbelangt. Eine ihm verliehene Medaille des Bezirks Oberbayern hat er schon zurückgegeben – aus Protest, weil sich seiner Meinung nach nichts ändert. Andere Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz, hat er noch. Sein Blick in die Zukunft ist nicht wirklich aufhellend. Aktive Sterbehilfe toppe noch das Thema Pflege, bringt Fussek es auf den Punkt: „Weil dann niemand mehr da und bereit ist, uns zu pflegen.“

Dennoch: Weitermachen will Fussek trotzdem – auch nach Erreichen des Rentenalters. Über 50 000 Hilferufe hat Fussek bereits gesammelt. Und sie reißen nicht ab.
(Rudolf Stumberger)

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