Leben in Bayern

Ein amerikanischer Soldat bewacht junge deutsche Soldaten nach ihrer Gefangennahme – manche davon waren noch Kinder. (Foto: dpa)

24.04.2015

Kanonenfutter für ein Phantom

Vor 70 Jahren sollten bayerische Buben die „Alpenfestung“ verteidigen – Münchner Gymnasiasten von damals erinnern sich

Wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt...“ So mussten sie in der Hitler-Jugend singen. Und so kommt es dann auch: Ihre Heimatstadt fällt in Scherben. Der Feind nimmt – trotz seiner „morschen Knochen“, wie unser dummes Marschlied sagte – am 30. April 1945 um 16.05 Uhr die „Hauptstadt der Bewegung“ in Besitz.
Gut hundert Kilometer südlich müssen Münchner Schüler, Studenten, Lehrbuben des Jahrgangs 1928 dennoch weitermarschieren, sinnlos weiterkämpfen. Sie wurden in allerlei Uniformen gesteckt, auch in solche der allseits gefürchteten Waffen-SS, und schnell noch ausgebildet im Schießen und Töten. Schulter an Schulter mit Resten deutscher Truppen und Grüppchen eines aus alten Männern und Kindern bestehenden „Volkssturms“ warten die 16-Jährigen am Nordrand der Alpen auf die Amerikaner, die mit Panzer-, Infanterie- und Fallschirmdivisionen aus allen Himmelsrichtungen zügig anrücken. Sie sind das letzte Aufgebot. Sie sollen das letzte Bollwerk des in Scherben gefallenen Großdeutschen Reiches verteidigen: die sogenannte „Alpenfestung“.
Was sich in jener „Woche Null“ zwischen Kriegsende und Kapitulation  ereignet und erst heute durch neu zugängliche Archive in örtlichen und personalen Einzelheiten rekonstruieren lässt, ist eine Chronik von Chaos, Verzweiflung, Realitätsverlust, Fanatismus und wirklichen Heldentum. Ein Opfergang jener Jahrgänge, die man später vereinfacht als Flakhelfer-Generation bezeichnen wird.

Rudi und Adi verstecken sich im Wald – und überleben

Die Alpenfestung: Nach neueren Tiroler Quellen entstammte die irre Idee einem Memorandum, das der Innsbrucker Gauleiter Franz Hofer „seinem Führer“ im November 1944 vorgelegt hat. Demnach soll ein Kerngebiet der Alpen befestigt werden. Nicht nur Wehrmacht und SS, sondern auch Standschützen und Werwölfe der Hitlerjugend sollen zum Endkampf bereitstehen – und notfalls als Partisanen. Hitler billigt den Vorschlag aber erst am 12. April 1945. Am 20. April – amerikanische Truppen besetzen Nürnberg, erreicht den Oberbefehlshaber der Westfront, Generalfeldmarschall Albert Kesselring, in seinem Hauptquartier in Motzenhofen bei Aichach der Führerbefehl, „die Alpenfestung zu verteidigen“. Am 29. April, einen Tag vor seinem Selbstmord, ernennt Hitler seinen treuen Hofer zum Reichsverteidigungskommissar. Ende April 1945 sind weder Militär noch Partei in der Lage, ein halbwegs taugliches Verteidigungssystem zwischen München, Salzburg und Bozen zu organisieren. Kesselring wirft dennoch die Kriegsmaschine noch einmal an. Die Strategie scheitert an der schieren Übermacht der amerikanischen 7. Armee. Sie scheitert aber auch am schwindenden Widerstandswillen, ja Ungehorsam vieler Wehrmachtoffiziere, die sich nach dem Suizid Hitlers nicht länger an ihren „Eid auf den Führer“ gebunden glauben. In Garmisch-Partenkirchen, einem wichtigen Eingang zur „Alpenfeste“, hat sich Ortskommandant Ludwig Hörl schon während der kurzen Aktivität der „Freiheitsaktion Bayern“ zum Verweigern des befohlenen „Endkampfs“ entschlossen.
Was übrig geblieben ist von der 1. und der 19. deutschen Armee, hat sich in das Bergland zurückgezogen. An acht Pässen und Talengen zwischen dem Fernpass und dem  Pass Strub an der Ostgrenze sind Panzersperren errichtet. Da und dort stehen auch die Neuzugänge der Jahrgänge 1927 und 1928 befehlsgemäß bereit, mit Spaten, Karabiner und Panzerfaust. Auch Bewohner einiger Grenzdörfer werden von ihren Kreisleitern zum Einsatz befohlen. Am Hödenauer See bei Kiefersfelden bekommen Bauernbuben noch schnell eine militärische Ausbildung – jeder mit drei Patronen. Munition muss gespart werden. Während die kaum dem Kindesalter entwachsenen Werwölfe dann beim Beschuss durch Panzer weinend ins Elternhaus laufen, verschanzt sich ein Bub im Gasthof Kaiserblick, gibt noch einen Schuss ab und wird von einem GI mit dem Gewehrkolben erschlagen.
Die Wacht am Inn fordert 27 Tote. Drüben am Fernpass müssen Jungmänner vom Reichsarbeitsdienst (RAD) mit 1200 deutschen Kämpfern in Stellung gehen. Darunter der Gymnasiast Rudolf Baumann aus München. Tagelang sitzen er und sein Volksschulspezi Adolf Lautenschlager im frisch geschaufelten Schützengraben. An einem Hang gut 50 Meter oberhalb der Passstraße, die am 1. Mai nach plötzlichem Wintereinbruch dick verschneit ist. Die 200 Arbeitsdienstsoldaten sollen die unten vorbeirollenden Panzer der 44. US-Infanteriedivision „blitzartig“ angreifen. „Wir froren schrecklich,“ erzählt der heute 86-jährige Baumann im Seniorenheim. „Die feindlichen Granaten zischten über uns hinweg, wir lagen im toten Winkel.“
Der übrige Haufen wird aufgerieben, „blitzartig“. 80 blutjunge RAD-Kameraden werden als „Ausfälle“ gemeldet. Rudi und Adi verstecken sich im Wald. Am nächsten Tag, während immer noch gekämpft wird, werfen sie ihr Kriegsspielzeug weg, steigen vom Berg runter, heben die Hände hoch. Dies war, so liest man heute im Archiv der Tiroler Landesregierung, das größte und heftigste Ge-fecht des kurzen Alpenkrieges – und der militärische Untergang der sagenhaften „Alpenfestung“.

Beim Abitur 1947 fehlen zwei Klassenkameraden

Doch Gauleiter Hofer schreit noch einmal am selben 2. Mai in seinem letzten Aufruf hinaus: „Umso zäher wollen wir uns an die Berge krallen.“ Über Mittenwald und den Zirler Berg marschiert zur gleichen Zeit eine Vorhut der 101. US-Infanteriedivision ins Innere der immer noch vermuteten „Alpine Fortress“. Beim Grenzdorf Scharnitz hat man 15- und 16-jährige Buben vom „HJ-Banner Innsbruck“ an die vorderste Kampflinie gehetzt. 28 von ihnen sterben. In der Abenddämmerung des 3. Mai erreichen die Amerikaner kampflos das Landhaus von Innsbruck, den Tiroler Regierungssitz. Er ist bereits besetzt – von 2000 Bewaffnete der österreichischen Widerstandsbewegung unter dem Fernmeldetechniker Karl Gruber.
Doch noch immer haben sich einzelne deutsche Widerstandsnester, meist in Unkenntnis der Lage, an die Berge gekrallt. Am 3. Mai ziehen die Amerikaner eine „Sicherungsaktion“ durch das westliche Inntal. „Wir mussten uns auf einer Anhöhe zwischen Landeck und Mills eingraben,“ erinnert sich der Wirtssohn Georg Weingärtner aus München-Haidhausen, auch er zum Arbeitsdienst einberufen. „Sobald sich unten Amerikaner bewegen, sollten wir runter ballern.“ Der Widerstand wird auch hier jedoch schnell gebrochen. Weingärtner bekommt einen Bauchschuss. Er wird von den Feinden in einem Feldlazarett versorgt und dann ins Olympiastadion von Garmisch-Partenkirchen zu Tausenden von kriegsgefangenen Kameraden gepfercht.
Baumann und die Soldatenbuben vom Fernpass indes werden ins große US-Gefangenenlager Heilbronn verfrachtet, wo die kräftigeren Burschen den Franzosen zur Fronarbeit übergeben werden. Am 4. Mai wird auch Kufstein eingenommen.
Indes kann Kesselring das Hauptquartier ein letztes Mal verlagern, vom Königssee in den österreichischen Pinzgau, wo er am 8. Mai im Gasthof Moser in Saalfelden die Kapitulation aller Streitkräfte im Alpenraum unterzeichnet. 1947 wird er von einem britischen Militärgericht zum Tod verurteilt, aber 1952 freigelassen.
Im selben Jahr 1947 können sich Weingärtner, Baumann und die anderen unfreiwilligen, unmündigen Alpenkämpfer und Flugabwehrsoldaten in einem Schwabinger Gymnasium endlich auf ihr Abitur vorbereiten. Zwei von der alten Klasse aber fehlen: Der eine ist gefallen, der andere in Russland gefangen. (Karl Stankiewitz)

Kommentare (1)

  1. Martin am 16.01.2016
    Kiefersfelden ist ein Nachbarort zu Flintsbach wieß man zum Wildbarren einer Höhenstellung über der Staatsstraße noch näheres??
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