Leben in Bayern

Helfer auf der Sea-Eye: Sie haben die Flüchtlinge auf dem überfüllten Schlauchboot mit Rettungswesten und Wasser versorgt. (Foto: sea-eye.org)

01.12.2017

Mit einem Rettungskutter aus Regensburg

Der Verein Sea-Eye aus der Oberpfalz hat bereits über 13 000 Flüchtlingen im Mittelmeer das Leben gerettet – 2018 macht er trotz massiver Behinderungen weiter

Nichts scheint so schnell vergessen wie das Elend der anderen. Zum Beispiel das von Flüchtlingen, die im Mittelmeer zu ertrinken drohen. Die Helfer von Sea-Eye können die Bilder von hilflos im Meer treibenden Menschen nicht verdrängen. In Regensburg erzählen sie während einer Rettungsübung von ihren Erlebnissen vor den Küsten Afrikas.

Ein halbes Dutzend Mitglieder steht bereit. Das Wasser der Donau hat sechs Grad Celsius. Es regnet und es ist windig. Die Strömung ist stärker als auf dem Mittelmeer. „Aber da haben wir es teilweise mit ein bis zwei Meter hohen Wellen zu tun“, sagt Philipp Kroseberg, ein 26-jähriger ehrenamtlicher Wasserretter. Er wird die Regensburger Wasserrettungsübung, wie es im Fachjargon heißt, mit den Sea-Eye-Helfern durchziehen.

Sea-Eye ist ein Regensburger Verein, der seit April 2016, dem Beginn der Mission, 13 284 Flüchtlingen im Mittelmeer das Leben gerettet hat. Mit dem umgebauten Kutter Sea-Eye und seit diesem Jahr auch einem zweiten größeren Schiff, der Seefuchs, finden die ehrenamtlichen Rettungseinsätze statt. Noch am letzten Einsatztag dieses Jahres konnte die Crew der Seefuchs vor der libyschen Küste 76 Menschen vor dem Ertrinken bewahren. Darunter 13 Frauen, 17 Kinder und eine schwangere Frau im achten Monat. „Wir haben sie sicher an die italienische Küstenwache übergeben“, berichten die Mitglieder, die an diesem Tag in Regensburg zusammengekommen sind.

In ihren roten Überlebensanzügen sind sie weit über das Becken des Westhafens hinweg sichtbar. In so einem Anzug hat man eine Überlebenschance, auch bei einer Wassertemperatur von nur einem Grad. Etwa zwei Stunden hält man durch. „Nicht gerade lange“, erklärt Kroseberg. Aber ohne Anzug wären es kaum 15 Minuten. Dann ist die Kerntemperatur des Körpers so weit abgesunken, dass es lebensbedrohlich wird.

Einen nach dem anderen zieht Kroseberg aus dem Wasser. Die Geretteten haben die Kraft, selbst über das Heck in das Rettungsboot zu steigen Im Ernstfall ist das oft schwieriger. Und auch bei der Übung wird klar: Trotz Schutzanzug und Rettungsweste – wer in Seenot gerät, steht unter Stress. „Ich war ja auf Schlimmes vorbereitet“, berichtet Johannes Nägelsbach von seinem ersten Einsatz auf der Seefuchs. „Aber es kam schlimmer und es hätte noch schlimmer sein können. Ohnehin sind auch so schon viele Tränen geflossen“, sagt er. Nägelsbach ist 31 Jahre alt und über einen Skipper auf den Verein aufmerksam geworden. Unvorbereitet, wie die meisten der inzwischen mehr als 1000 Helfer bei Sea-Eye. Sie kommen aus allen Berufs- und Gesellschaftsgruppen und aus ganz Deutschland. Allein 34 Ärzte arbeiten für Sea-Eye.

Die Übung an diesem kalten Novembertag ist freiwillig. Sie soll Skipper und Crew fit machen für den Fall, dass sie selbst einmal in Seenot geraten und drohen, auf offener See zu ertrinken.

Ein Arzt rettet Buben und sorgt in Deutschland für ihn

Manches Schicksal lässt die Retter auch nach dem Einsatz nicht ruhen, wie das des jungen Togolesen Kamal Masahu. Beim Jahrestreffen in Regensburg berichtet der Allgemeinarzt Achim Stein aus Wuppertal von der Rettung. „Es ist eine dramatische Geschichte“, sagt er, „aber eine mit Happy End.“

Zwei Tage dauerte damals der Einsatz bereits. Die Crew hatte kaum geschlafen und die meisten großen Schiffe waren bereits voll, als die Nachricht kam, man müsse einen Jungen an Bord nehmen.

Halb bewusstlos, unterkühlt und nur mit einer Turnhose bekleidet, ohne Eltern, der Gesundheitszustand gefährlich instabil, traumatisiert. „An Bord nehmen wir nur in lebensbedrohenden Notfällen“, sagt Stein. „Kamal stierte nur in die Luft. Stundenlang. Sonst nichts“, erzählt er. Das habe ihn und seinen Sohn, der ebenfalls als Arzt mit an Bord war, tief berührt. Viel später erst erfuhren sie ein paar spärliche Details über den Tod der Eltern. Seine beiden Geschwister, vier und acht Jahre alt, sollen in Ghana auf einer Kakaoplantage leben, von wo Kamal geflohen war. Nachprüfen lassen sich die Informationen kaum. Stein hinterließ seine Mobilfunknummer und den Kontakt nach Deutschland. Auch die italienischen Behörden ließ er wissen: Er werde für den 15-Jährigen sorgen, sollte er es irgendwie nach Deutschland schaffen.

Kamal schaffte es. Nach vier Monaten kam ein Anruf. Aber es sollten noch Monate vergehen, bis der Junge nach Deutschland weiterreisen konnte. Im Oktober traf er in Wuppertal ein. Heute lernt er deutsch und geht zur Schule. Hin und wieder berichtet er von seiner Flucht von Ghana über Niger und durch die Wüste. Es sind nur Bruchstücke einer Biografie, die von Todesangst, Not und Gewalt gekennzeichnet ist. Über das halbe Jahr im libyschen Lager verliert er kein Wort. Aber er malt. „Aus diesen Bildern können die Psychologen einiges ablesen“, sagt Stein. Es sind solche Erlebnisse, die Sea-Eye-Mitarbeiter ermutigen, weiterzumachen. Auch gegen alle Schwierigkeiten, die 2017 auf sie einprasselten.

Systematisch wurde ihre Arbeit und die von anderen Seenotrettern wie Ärzte ohne Grenzen oder Sea Watch behindert. Die Crews von Sea-Eye lagen im August wochenlang im Hafen von Malta. „Stand-by“, wie es Sea-Eye-Gründer Michael Buschheuer damals ausdrückte. „Dieser Zustand ist unerträglich“, sagte er in Interviews. „Wir müssten dringend helfen und können nicht.“

Die libysche Regierung hatte vor ihrer Mittelmeerküste eine „search and rescue region“ von rund 70 Seemeilen eingerichtet und den unabhängigen Seenotrettern mit Gewalt gedroht, sollten sie in das Gebiet einfahren. Es hatte Schüsse gegeben. Sogar auf die italienische Küstenwache.

Für Buschheuer war klar: Von der libyschen Küstenwache sei keine humanitäre Hilfe zu erwarten. „Wir wissen sehr genau, wie es aussieht, wenn Libyer schwarzafrikanische Menschen retten. Sie haben keinerlei Gnade“, erklärte er im Sommer. Noch nie seien Libyer in Seenot geratenen Menschen zu Hilfe kommen. Die Behörden in Libyen reagieren nur, „weil sie einen Haufen Geld dafür bekommen“. Die menschenverachtende Einstellung aber sei geblieben, glaubt Buschheuer.

Im Sommer wurde die Crew wochenlang behindert

Glücklicherweise konnte die Sea-Eye ihre Arbeit schließlich fortsetzen und weiter Leben retten. Auch die Zusammenarbeit mit den italienischen Behörden vor Ort sei prinzipiell gut, hört man beim Jahrestreffen. Viele Zweifel aber bleiben. Mit der Anschuldigung, mit Schleppern zusammenzuarbeiten, hatte der italienische Staatsanwalt Carmelo Zuccaro den Rettungsorganisationen nachhaltig geschadet. Statt mit ganzer Kraft Menschen zu retten, waren sie wochenlang in Diskussionen verstrickt. Sie mussten sich vor Ausschüssen rechtfertigen und einen „Fakten-Check“ über ihre Tätigkeit vorlegen. Viele sprechen deshalb von „systematischer Kriminalisierung“.

Immerhin: Beide Schiffe des Vereins sind weitergefahren. Andere haben ihre Mission abgebrochen. Beweise für seine Anschuldigungen konnte Zuccaro nie vorlegen. Ihre Auswirkungen aber sind beträchtlich. Das Spendenaufkommen sei zurückgegangen, heißt es. Und die Arbeit der Retter damit extrem beeinträchtigt.

Die Schiffe von Sea-Eye überwintern gerade auf Gozo und werden dort für die Einsätze im Frühjahr instand gesetzt. Das kostet neben viel Zeit der ehrenamtlichen Helfer auch viel Geld. Aber der Wille, das Elend der anderen nicht zu vergessen, sei ungebrochen, bekräftigt Sea-Eye-Gründer Buschheuer. „Wir werden 2018 weiter Leben retten.“
(Flora Jädicke) Foto (Jädicke): Eiskalte Übung für die Retter in Regensburg: Sechs Grad hat die Donau.

Kommentare (1)

  1. Trude am 02.12.2017
    Die Hilfe in allen Ehren: Aber in Afrika werden Mitte des Jahrhunders 2,4 Milliarden Menschen leben, denen es dann zumindest immer noch deutlich schlechter gehen wird als den Europäern. Jeder, der von Leuten wie Sea Eye nach Europa gebracht wird, nähert die Hoffnung aller Daheimgebliebenen, sich auch auf den Weg zu machen. Man kann helfen bis zur Selbstaufgabe. Aber es wäre ehrlich den nur knapp 500 Millionen Europäern (und deren Altersdurchschnitt ist viel höher als in Afrika) zu sagen, dass ihnen dann ihre Heimat irgendwann in naher Zukunft nicht mehr gehören wird. Die Afrikaner schaffen es nicht, sich einen Lebensstandard wie die Europäer zu erarbeiten, das muss uns allen klar sein. Doch weil sie auch so gut leben wollen wie die Europäer, werden sie es sich einfach nehmen, wenn sie stark genug dafür sind. Danke,
    Sea Eye.
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