Leben in Bayern

Zwei Ballons fliegen über den Dächern Münchens – sie sollen die Höhe der beiden geplanten Hochhäuser verdeutlichen. (Foto: dpa/Hase)

07.01.2022

München kratzt an den Wolken

In der Landeshauptstadt ist ein neuer Hochhausstreit entflammt – jetzt soll das Volk über ein Projekt an der Paketposthalle entscheiden

Die Frage, wie hoch man in München hinaus darf, ist eine hochemotionale. Bis zuletzt hielt sich die Stadt an das Votum der Bürger*innen von 2004, dass kein Gebäude die Türme der Frauenkirche überragen soll – obwohl es nur für ein Jahr bindend war. Doch nun sind zwei Türme mit einer Höhe von 155 Metern geplant. Und es tobt neuer Streit.

Es war im September, da erschienen plötzlich zwei rote Punkte über der Stadt. Die beiden Ballons, vier Meter im Durchmesser, sollten den Münchner*innen schon einmal einen Vorgeschmack bieten auf das, was sie in Bälde im Westen ihrer Stadt erwartet – zumindest, wenn es nach dem Willen einer Mehrheit im Münchner Rathaus und dem Unternehmer Ralf Büschl geht. Die Ballons schwebten nebeneinander in 155 Meter Höhe und damit genau in der Höhe, bis zu der künftig zwei neue Hochhäuser in den Himmel ragen sollen. Es wären damit die höchsten Häuser Münchens, nur der Olympiaturm wäre noch höher. Nach der auf Wikipedia genannten 150-Meter-Marke dürfte man nun sogar erstmals von Wolkenkratzern sprechen. Gut, sagen wir: Wolkenkratzerchen.

Zum Vergleich: Das Empire State Building ist – ohne Antenne – 381 Meter hoch. Und das höchste Haus der Welt misst 828 Meter, es steht in Dubai. Vergleiche, die zugegebenermaßen recht selten in der bayerischen Landeshauptstadt angestellt werden. Hier lässt man traditionell lieber die Kirche im Millionendorf und orientiert sich entsprechend an den Türmen der Frauenkirche. Und das wiederum hat nicht zuletzt mit dem früheren langjährigen Oberbürgermeister Georg Kronawitter zu tun, worüber noch zu sprechen sein wird.

Stadtplanerin: „Mit Modernität tut sich der Münchner etwas schwer“

Die beiden Türme also, die nun so manche Gemüter in München erhitzen, sollen auf dem Areal der Paketposthalle an der Friedenheimer Brücke entstehen, drei S-Bahn-Stationen westlich des Hauptbahnhofs. Früher war hier tatsächlich mal ein Umschlagplatz für Pakete, die mit Güterzügen auf 15 Gleisen in die Halle geliefert wurden, heute wird die Halle noch als Briefzentrum genutzt, zwischenzeitlich war sie ein heißer Kandidat für den Bau den neuen Münchner Konzertsaals, 2018 schließlich verkaufte die Post sie samt des umliegenden Geländes an Investor Büschl.

1100 Wohnungen und 3000 Arbeitsplätze wird es hier geben, heißt es. Die Türme würden zum „sichtbaren Zeichen des modernen Münchens“, wirbt der Investor auf der Website des Projekts. „Internationale Architektur. Für Wohnungen und Kinderspielflächen, Büros, Hotel und Gastronomie. Mit dem höchsten Biergarten der Stadt.“ Gewichtige Argumente, zumal in einer Stadt, in der Biergärten ohnehin das Höchste sind.

Robert Brannekämper sieht das etwas anders. Nicht dass er etwas gegen Biergärten hätte, aber für den CSU-Landtagsabgeordneten hat München Hochhäuser dieser Größenordnung ungefähr so nötig wie die Weißwurst den Ketchup. Als „Todsünde“ bezeichnet der studierte Architekt die geplanten Türme an der Paketposthalle. Brannekämper ist dabei nicht irgendein Landtagsabgeordneter. Als Vorsitzender des CSU-Kreisverbands Bogenhausen hat er in der Münchner CSU durchaus etwas zu sagen. 18 Jahre lang saß er auch im Stadtrat und war dort mit zuständig für das Thema Stadtplanung.

Der Politiker sitzt in der Gaststätte des Landtags, zu seinen Füßen die Landeshauptstadt. Der Blick aus dem Fenster umfasst die Highlights des Stadtpanoramas: Frauentürme, Rathaus, Alter Peter – das ganze Programm. „Neun Millionen Touristen kommen jedes Jahr hierher, um dieses Millionendorf München zu erleben“, sagt Brannekämper. „Ich glaube, dass das in erster Linie mit der Stadtgeschichte und dem Stadtbild zu tun hat. München zählt schließlich ohne Zweifel zu den schöneren Städten in der Welt.“

Und damit es das bleibt, will Brannekämper der Stadt nun die aus seiner Sicht überflüssigen Hochhausprojekte verbieten lassen – von den Münchnerinnen und Münchnern. Sobald es Corona zulässt, voraussichtlich im Frühjahr, wollen er und seine Mitstreiter*innen ein Bürgerbegehren starten und sich auf Unterschriftenjagd begeben, um einen Bürgerentscheid zu erzwingen. Wie ein solcher ausgehen würde, darüber lässt sich nur spekulieren – nicht nur, weil die genaue Fragestellung noch unbekannt ist, sondern auch, weil sich die Münchner Geister sehr scheiden bei der Frage, wie hoch München hinaus darf. Die Fronten verlaufen dabei quer durch die Parteien. So hat Brannekämper mit der Ankündigung des Bürgerbegehrens nicht wenige in der Münchner CSU verärgert, und sein Sancho Panza im Kampf gegen die Gebäuderiesen ist ausgerechnet der frühere langjährige SPD-Stadtrat Wolfgang Czisch.

„Dass das Thema in München so emotional wird, hat sicherlich viel damit zu tun, dass München sehr traditionell ist“, erklärt Claudia Neeser. Das habe sich schon beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem 80 Prozent der Stadt zerstört worden seien, gezeigt. Damals habe man zwar im Stil der Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre gebaut, sich aber recht streng an den früheren Baulinien und -höhen orientiert.

Neeser ist Architektin und Stadtplanerin, spezialisiert auf die Vermittlung von Baukultur; seit ein paar Jahren arbeitet sie viel mit dem Münchner Planungsreferat zusammen, organisiert beispielsweise Stadtführungen. Wenn es um das Thema Hochhäuser geht, beginnt sie die Tour gern im Stadtmuseum. Dort steht ein recht beeindruckendes dreidimensionales Holzmodell der Innenstadt, Maßstab 1:500. Anhand dieses Modells sehe man sehr gut, wie homogen die Architektur der Innenstadt sei, was die Traufen und Dachflächen angehe. „Das Einzige, was da herausschaut, sind die Kirchtürme und das Alte und Neue Rathaus.“
Claudia Neeser führt das auch auf das besondere Münchner Traditionsbewusstsein zurück: „Das steckt schon immer noch in sehr vielen Menschen drin. Eigentlich möchte man die Stadt genau so, wie man sie liebt, behalten. Mit Modernität tut sich der Münchner ein bisschen schwer.“

Den Vorwurf müssen sich auch Brannekämper und seine Mitstreiter*innen regelmäßig anhören. Sie verharrten im Gestern, seien nicht offen für Neues. Besonders scharf artikuliert das Investor Büschl, der den CSU-Politiker dann auch mal recht unfreundlich als Querdenker und Populisten bezeichnet. Ohne Mut zu Veränderung, so Büschl, hätte es wohl auch nie die U-Bahn oder das Olympiagelände in München gegeben.

Dabei ist es nicht so, dass München keine Hochhäuser hätte. Der BMW-Vierzylinder von 1972 und das Hypo-Hochhaus von 1981 etwa sind längst zu Wahrzeichen der Stadt geworden und stehen unter Denkmalschutz. Sie sind 101 und 114 Meter hoch.
Brannekämpers Hauptargument gegen die „Büschl-Towers“ ist ohnehin ein anderes: „Wir glauben, dass Hochhäuser, wenn es ums nachhaltige und ökologische Bauen geht, schlechter abschneiden als der klassische Wohnungsbau.“ Sobald man ein Haus höher als 60 Meter baue, müsse man allein schon wegen der erheblich höheren Brandschutzvorschriften Vorgaben erfüllen, die ein ökologisches und klimafreundliches Bauen schier unmöglich machten.

Ein Argument der Gegner: Hochhäuser lassen sich kaum ökologisch bauen

Erst das zweite Argument, das Brannekämper anführt, ist das ästhetische, das Münchner Hochhausgegner schon immer umgetrieben hat: die Verschandelung der Stadtsilhouette. Im aktuellen Fall stößt ihnen zum Beispiel auf, dass – je nach Blickwinkel – der Anblick von Schloss Nymphenburg gestört sei.

Und da kommt man nun zwangsläufig zum schon erwähnten Georg Kronawitter: Der mittlerweile verstorbene SPD-Politiker war mit einer Unterbrechung von 1972 bis 1993 Münchner Oberbürgermeister und machte als Rentner 2004 seinem Nachfolger Christian Ude das Leben schwer, indem er selbst ein Bürgerbegehren gegen Hochhäuser initiierte. Gegen die „gesichtslosen Vierkantbolzen“ hat man damals gewettert und beklagt, dass der Alpenblick gestört werde, der sich den Münchnerinnen und Münchnern bei Föhnlage mitunter bietet. Am Ende kam es zum Bürgerentscheid. 50,8 Prozent stimmten dafür, dass künftig kein Hochhaus mehr höher als 100 Meter sein dürfe, was etwa der Höhe der Frauentürme entspricht. Die Wahlbeteiligung lag zwar nur bei 21,9 Prozent, doch Kronawitter freute sich über die „Watschn für den Stadtrat“.

Unmittelbar betroffen waren damals zwei geplante Bauprojekte: Siemens wollte im Süden einen 148 und einen 112 Meter hohen Turm bauen, der Süddeutsche Verlag im Osten ein 145 Meter hohes Gebäude. Die Firmen konnten ihre ursprünglichen Baupläne einpacken. Das Votum der Bürgerinnen und Bürger war zwar rechtlich nur ein Jahr lang bindend, doch hielt sich die Stadt bis zuletzt daran.

Anna Hanusch macht keinen Hehl daraus, dass sie von dem Höhen-Dogma nichts hält: „Obergrenzen finde ich völlig absurd.“ Man könne doch nicht einfach einen Glasdeckel auf die Stadt legen, sagt sie gern. Dennoch, findet sie, müssten die Münchner selbst noch einmal entscheiden. Auch 17 Jahre nach dem Kronawitter-Entscheid will sie nicht einfach nur per Stadtratsbeschluss über das damalige Votum hinweggehen. Hanusch ist Fraktionschefin der Grünen im Stadtrat, gerade wurde sie von ihrer Partei für das im Sommer frei werdende Amt der Baureferentin bestimmt.

Die Entwürfe für die Hochhäuser an der Paketposthalle findet Hanusch schlüssig. „Ich mag daran vor allem, dass sie diese Halle und diesen Ort noch mal neu beleben.“ Der Blick vom Schloss könne nun wirklich kein Grund dagegen sein. „Wenn man nichts Mutiges oder auch ein bisschen Provokantes zulässt, was eben auch mal von der Norm abweicht, kommt auch nicht unbedingt die spannende, anregende und identitätsstiftende Architektur heraus.“

Die Stadt könnte einem Bürgerbegehren mit einem Ratsbegehren zuvorkommen

Allerdings, gibt Hanusch zu, hätte man den Prozess, wie man zu dem Entwurf gekommen ist, transparenter gestalten müssen. Und die Einwände in puncto Ökologie? Rein ökologisch seien wohl Gebäude mit genau sechs oder sieben Geschossen die besten. Aber die könne man nicht überall realisieren. Und in der Gesamtabwägung denke sie, dass sich auch die beiden Türme einigermaßen nachhaltig errichten ließen – sofern man es richtig mache.

Eine Meinung, der sich übrigens auch Stadtplanerin Neeser anschließt. Sie verweist auf neue wegweisende Projekte. So gebe es bereits in Wien und in Mjøstårnet im Süden Norwegens Hochhäuser aus Holz, beide um die 85 Meter hoch. Und in Berlin soll nun ein 98 Meter hohes Haus aus Holz entstehen. Büschl freilich will viel höher bauen, und von Holz war bislang nie die Rede. Eher schon von großflächigen Photovoltaikanlagen, die zwar den Bau nicht klimafreundlicher gestalten, aber zumindest den späteren Betrieb des Gebäudes.

Die Hochhausgegnerschaft wird in ihrem Bürgerbegehren nun voraussichtlich auf das Projekt an der Paketposthalle abzielen. Für eine Fragestellung, die Hochhäuser einer bestimmten Größe generell verbietet, seien die gesetzlichen Hürden mittlerweile zu hoch, sagt Brannekämper. Doch die Stoßrichtung ist klar und geht weit über die jetzt geplanten Türme hinaus: München soll keine Hochhausstadt werden. Stehen die Zwillingstürme erst einmal, so die Befürchtung, werde dies weitere Begehrlichkeiten wecken. Die Angst wird auch dadurch genährt, dass eine derzeit in Arbeit befindliche Hochhausstudie laut erstem Entwurf explizit Zonen ausweist, die sich für den Bau von Hochhäusern eigneten.

Grünen-Politikerin Hanusch würde Brannekämper gern mit einem Ratsbegehren zuvorkommen und die Bürgerschaft abstimmen lassen. Auch andere Stadtratsfraktionen halten das für einen gangbaren Weg. Den Fehler von 2004, die Sache laufen zu lassen, will man jedenfalls nicht wiederholen. Damals kamen die Hochhausbefürwortenden erst kurz vor der Entscheidung in Wahlkampfmodus. Am Ende fehlten ihnen 3055 Stimmen.
(Dominik Baur)

Bild im Text: Entwurf des Architekturbüros Herzog & de Meuron.

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