Leben in Bayern

Nikoläusin Christine Doll. Fotos: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

04.12.2019

Nikoläusin seit 60 Jahren

Jedes Jahr am 6. Dezember schnappt sich Christine Doll einen Rauschebart und eine Rute - und das schon seit 60 Jahren. Die mit 78 Jahren vermutlich älteste Nikoläusin in Bayern spielt den Heiligen heuer zum letzten Mal. Wehmütig ist sie nicht

Ein bärtiger Mann, in auffällig roter Kleidung, groß, stattlich, tiefe Stimme, schiebt anderen Menschen gerne etwas in die Schuhe. Bis auf das letzte Merkmal erfüllt Christine Doll das Klischee des Nikolauses nicht.

Die zierliche 1,65 Meter große Brünette aus Durach (Landkreis Oberallgäu) bügelt einen roten Umhang. In zwei Stunden wird sie ihn zum Internationalen Nikolaustreffen im nahe gelegenen Missen-Wilhams tragen. Knapp 40 Nikolaus-Darsteller werden dort bei einem Gottesdienst für ihre Besuche in diesem Jahr gesegnet. Bei der Konferenz tauschen sie sich über ihre Erlebnisse aus. Am meisten Erfahrung hat wohl Christine Doll: seit 60 Jahren hängt sie sich den weißen Rauschebart um. Sie ist die Dienstälteste in der Runde - und die einzige Frau.

Mit einem braunen Kajal malt sich die 78-Jährige Krähenfüße um die Augen. Sie schlüpft in rote Stiefel, legt sich das Gewand an, stülpt Handschuhe über, befestigt den weißen Bart und nimmt den Bischofsstab zur Hand. Dass hinter der Erscheinung eine Frau steckt, lässt höchstenfalls die zarte Stimme erahnen. Doch Doll ist geübt, sie zu verstellen. "Es hat noch nie jemanden gestört, dass ich als Frau den Nikolaus spiele", sagt sie. Und das, obwohl sie bereits seit 1959 in das Kostüm des heiligen Nikolaus schlüpft - damals war sie 18 Jahre.

Inspiriert hat sie ihr großer Bruder Rudi, den sie im Jahr zuvor beobachtete, als er den Nikolaus für das Nachbarskind Gerlinde spielte. "Das hat mich begeistert!", sagt sie und klingt dabei immer noch euphorisch wie eine quirlige Jugendliche. "Zuhause habe ich mich hingesetzt und eine Mitra gebastelt." Die goldene Mütze mit dem rotem Sandkreuz trägt sie noch heute - auch das Gewand, das ihre Mutter daraufhin für sie nähte. Wie alle Utensilien, ist es einwandfrei erhalten. Die roten Gummistiefel wurden kürzlich neu lackiert. Sie sind mehrere Nummern zu groß und gehörten ihrem Vater, der sie bei seiner Arbeit in der Molkerei getragen hatte. Mit den weißen Handschuhen hatte ihr Onkel als Verkehrspolizist den Autofahrern die Richtung gezeigt.

Die leuchtenden Kinderaugen wird sie vermissen

Ihr Bruder Rudi hat seit seinem Auftritt 1958 nie wieder den Nikolaus gespielt. "Das überlasse ich lieber meiner Schwester", sagt der 81-Jährige, der auch zum Nikolaustreffen erschienen ist und voller Stolz seine Schwester mit einer Kamera verfolgt - als Erinnerung, denn: Diesen 6. Dezember wird Christine Doll das letzte Mal als Bischof Nikolaus auftreten. "Ich merke, jetzt ist es Zeit zu gehen", sagt die 78-Jährige, der man das Alter weder ansieht noch anmerkt. "Man muss irgendwann loslassen und darf nicht an allem hängen."

Zum jährlichen Nikolaustreffen möchte sie dennoch weiterhin kommen. "Zum Glück", findet Veranstalter Franz Horn. "Sie ist eine Bereicherung für uns", sagt er. Doll sei engagiert, hilfsbereit und bringe Leben in die Bude. "Wenn ich jetzt etwas aus Israel bräuchte, könnte ich ihr zutrauen, dass sie losfliegt. Sie ist sehr aktiv und viel unterwegs."

Doll ist nicht wehmütig, dass ihre Nikolaus-Karriere nun aufhört. Auch wenn sie die Begegnung mit den Kindern vermissen werde: "Die leuchtenden Kinderaugen, wenn der Nikolaus das Haus betritt, haben mich am meisten erfüllt." Vor jedem Nikolausspiel sei sie angespannt. Und das, obwohl die Alleinunterhalterin es gewöhnt ist, mit ihrem Keyboard auf der Bühne zu stehen. Aber mit Kindern sei es eine besondere Herausforderung, schließlich möchte man keinen enttäuschen.

Einen ihrer bewegendsten Momente hatte Doll mit dem Adoptivkind Birgit. "Das war ein Mädchen mit roten Backen, die schon zwei Mal von Adoptiveltern zurückgegeben wurde. Sie war also in der dritten Familie." Beim Besuch vom Nikolaus bemühte sich das Mädchen besonders. "Da hat man gemerkt, sie wurde zurückgewiesen, von Menschen enttäuscht und will nun dem Nikolaus zeigen: "Ich bin auch ein liebes Kind."" Am Ende fragte Birgit, ob sie dem Nikolaus ein Bussi geben darf. Das habe Doll das Herz erwärmt.

Die Nikoläusin sieht sich als "traditionellen Nikolaus - mit Nüssen und Mandarinen." Bei ihr komme kein Handy in den Sack. Die Besuche folgen schon immer einem Prinzip: Drei Mal Lob und ein Mal Tadel. "Ich reihe keine Liste von Verfehlungen auf", wie es von manchen Eltern gewünscht sei. Sie habe die Erfahrung gemacht, wenn man sich auf eine negative Eigenschaft konzentriere, dann arbeiten die Kinder daran.

Die Eltern schreiben ihr vorab Positives und Negatives auf. Die "Protokolle", wie Doll sie nennt, wurden ihr früher handgeschrieben überreicht. "Heute kommen E-Mails." Sonst könne sie trotz der sechs Jahrzehnte keine wesentliche gesellschaftliche Veränderung feststellen. "Im nächsten Jahr frage ich nach, ob das Kind sich gebessert hat. Dann erzählen die Kinder oft ganz stolz."

Mittlerweile habe sich ein "Riesenstapel an Protokollen von 60 Jahren" angesammelt. Was Doll damit machen wird, weiß sie noch nicht. Vor ihrem Ruhestand stehen noch vier Besuche auf der Liste. Einer findet bei Stefan statt. Für ihn spielte Christine Doll den Nikolaus, als er drei Jahre alt war - am Freitag wird sie seine Enkelkinder besuchen.
(Carolin Gißibl, dpa)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Sollen Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.