Leben in Bayern

Im Hintergrund des Gedenksteins für die Opfer: Tennisplätze auf dem ehemaligen Appellplatz des KZs. Dort soll ein Altenheim gebaut werden. (Fotos: Dominik Baur)

10.12.2021

"Ohne Respekt vor Würde und Bürde"

Ist ein Ort, an dem einst Tausende Opfer der Nazis starben, heilig? Oder dürfen hier neue Gebäude errichtet werden? Darüber tobt gerade ein Streit in Hersbruck

Auf dem letzten noch unbebauten Teil der ehemaligen KZ-Außenstelle Hersbruck will die Stadt ein Altenheim errichten lassen. Thomas Wrensch, Pfarrer und Religionslehrer im Ruhestand, kämpft mit seinem Doku-Verein gegen das Projekt. Die Aussichten, dass er gewinnt? Ziemlich aussichtslos. Ein Erfolg aber: Jetzt wird ausgelotet, wie trotz Bebauung die Erinnerung aufrechterhalten werden kann.

Es ist ja nichts da. Keine Baracken. Keine Wachtürme. Kein Krematorium. Nichts. Zumindest nichts, was man sehen könnte. Was da ist: die Erinnerung, das Wissen, was hier einmal war. Das Wissen um die Verbrechen, die hier begangen wurden. Hier in der KZ-Außenstelle Hersbruck. Und gerade diese Diskrepanz zwischen dem, was einmal war, und dem, was ist, sorgt in dem mittelfränkischen Städtchen gerade für Missstimmung. Konkret geht es darum, dass das Nichts nun bebaut werden soll.
Einer der Missgestimmten ist Thomas Wrensch. Der Pfarrer und Religionslehrer im Ruhestand ist Vorsitzender eines Vereins mit dem etwas sperrigen Namen Dokumentationsstätte Konzentrationslager Hersbruck, den viele daher schlicht „Doku-Verein“ nennen. Er führt einen zu dem ehemaligen KZ-Gelände. Unterwegs zeigt Wrensch auf eine Anhöhe, die man zwischen zwei Hausdächern erkennen kann. „Das da hinten ist die Houbirg“, sagt er.

Über 9000 Menschen haben die Nazis nach Hersbruck gebracht, um in der Houbirg Stollen für eine unterirdische Motorenfabrik für Jagdflugzeuge zu bauen, die sogenannten Doggerstollen. Bis zu 6000 Menschen befanden sich gleichzeitig in dem für 2000 Häftlinge angelegten Lager. Nur 3000 bis 4000 von ihnen haben Schätzungen zufolge überlebt. Die anderen starben aufgrund der unmenschlichen Bedingungen, unter denen sie arbeiten mussten, oder auf den sechs Todesmärschen, bei denen die Häftlinge kurz vor Kriegsende noch nach Dachau gebracht werden sollten.

Der Vorwurf: Die Stadt verfehle alle Ziele der Erinnerungskultur 

Bis nach Happurg am Fuße der Houbirg, wo die Stolleneingänge waren, wären es zwar nur 1,5 Kilometer Luftlinie gewesen, erklärt Wrensch, da es aber keine Brücke über die Pegnitz gab, mussten die Häftlinge einen Umweg gehen – fünf Kilometer lang. „Die sind sie marschiert. Durch die Stadt, wahrgenommen von der Bevölkerung. Die haben sie gesehen.“

Wrensch schiebt sein Fahrrad in eine Seitenstraße. Bis zu einer Baywa-Tankstelle, dann biegt er links ab, geht die Happurger Straße entlang, vorbei an Edeka, Realschule und Wertstoffhof. „Wir gehen jetzt genau auf dem Weg, den die Häftlinge damals gegangen sind.“

Hersbruck war ein Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg. Doch weil es so groß war, wird es oft als eigenständiges KZ betrachtet, als das drittgrößte süddeutsche Konzentrationslager nach Dachau und Flossenbürg. Die ersten Häftlinge kamen im Frühjahr 1944 hierher, politisch Verfolgte, auch Juden. Menschen aus 23 Nationen. Das Lager bestand bis Anfang April 1945, als die SS es angesichts der anrückenden US-Streitkräfte räumte. „Es war keine wirkliche Befreiung“, erzählt Thomas Wrensch. „Als die Amerikaner kamen, haben sie praktisch niemanden mehr vorgefunden.“

Das 12 700-Einwohner-Städtchen Hersbruck liegt nordöstlich von Nürnberg, in 15 Minuten ist man mit dem Zug in der Metropole. Seit der Gebietsreform gehört Hersbruck zum Landkreis Nürnberger Land. Doch wer etwas auf sich hält, ist hier heute wieder mit dem Autokennzeichen HEB unterwegs: Man identifiziert sich mit der Heimatstadt. Der frühere bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein wurde hier geboren, die Unternehmerfamilie Schickedanz startete hier nach dem Krieg mit der Eröffnung eines Kaufhauses den Wiederaufbau des Quelle-Versands. Ansonsten haben die Stadtannalen wenig Herausragendes aufzubieten – wäre da nicht eben das KZ gewesen, dessen Bau nicht gerade auf den Widerstand der Hersbrucker Bevölkerung gestoßen ist.
„Hersbruck war eh braun“, sagt Wrensch, „das hat damals ganz gut reingepasst.“ Und Geld habe das Nazi-Projekt der Stadt natürlich auch gebracht. Keine schöne Geschichte.

So wollte man auch nach dem Krieg lange Zeit nichts mehr davon wissen. Bloß nicht in den Köpfen der Menschen zum Synonym für ein KZ werden, so wie Dachau. Der damalige bayerische Landwirtschaftsminister Alois Schlögl dürfte vielen Menschen aus der Seele gesprochen haben, als er bei der Eröffnung einer Landwirtschaftsausstellung auf dem Gelände des ehemaligen KZs sagte: „Wir wollen, dass dieser Schandfleck einer unseligen Zeit endgültig aus dem Gesichtskreis der Bevölkerung verschwindet.“ Das passierte auch bald: Die Baracken wurden abgerissen, ein großer Teil des Geländes mit Wohnungen bebaut. Noch in den Achtzigern soll der Gymnasiast Gerd Vanselow, der in einer Facharbeit die Geschichte des KZs aufgearbeitet hat, als Nestbeschmutzer beschimpft worden sein, unter anderem vom damaligen Bürgermeister, der versucht haben soll, eine Publikation der Arbeit zu unterbinden.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Klima aber ganz entscheidend geändert. Heute ist man sich in Hersbruck der dunklen Seite der Geschichte sehr bewusst, bemüht sich um einen angemessenen Umgang damit. Daran will auch Thomas Wrensch keinen Zweifel lassen. Nur wenn es ums Thema Bebauung gehe, werde es halt immer schwierig.

Es geht vorbei an Schrebergärten und dem Rosengarten, wo auch eine Skulptur des letzten KZ-Überlebenden, Vittore Bocchetta, an die Opfer erinnert, dann stellt Wrensch sein Fahrrad ab. Er steht nun am Rande eines Parkplatzes. Daneben zwei Tennisplätze. Eine recht trostlose Gegend. Hier war der Appellplatz des Lagers. An diesem Ort soll nun ein Altenheim der Diakoneo gebaut werden. Vier Stockwerke, 110 Betten. Ende Juli hat der Bauausschuss dem Projekt sein Okay gegeben. Der Doku-Verein erfuhr davon aus der örtlichen Zeitung. Dass es mit dem Bauland eine besondere Bewandtnis hat, kam in dem Bericht nicht zur Sprache.

Die Antwort des Doku-Vereins kam erst zwei Monate später in Form einer Stellungnahme auf der eigenen Homepage, fiel aber dafür umso deutlicher aus: Nicht einverstanden sei man mit den Plänen. Die Stadt, so der Vorwurf, wolle den letzten noch freien Teil des ehemaligen KZs überbauen, ohne dabei „das Erinnern und Gedenken an die Opfer der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus zu erhalten oder zu fördern“. Immer wieder ist von der „Würde und Bürde“ des Geländes die Rede. Die Stadt folge der Logik einer geschichtslosen Bebauung und verfehle alle Ziele der gegenwärtigen Erinnerungskultur. Auf der anderen Seite des Geländes macht sich ein hellgrüner Bau breit, der mit seinem riesigen Vordach ein wenig wie eine überdimensionierte Tankstelle aussieht. Das Finanzamt. 140 Menschen arbeiten hier. 2009 hat es der Freistaat hier errichtet. Und zuvor das letzte steinerne Relikt des Lagers, die ehemalige SS-Kommandantur, abgerissen. Ein Fehler, wie heute mancher meint.

Das Gedenken werde „ausgegrenzt und an die Seite geschoben“, ärgert sich nun erneut der Doku-Verein. Gemeint ist damit vor allem der Dokumentationsort, der 2016 am Rande des Geländes errichtet wurde. Das kleine schwarze Gebäude hat die Form eines trapezförmigen Prismas. Eine entsprechend große geometrische Kulanz vorausgesetzt, könnte es ganz entfernt an einen Würfel erinnern. Den „schwarzen Kubus“ nennen die Hersbrucker*innen deshalb den Dokumentationsort. In seinem Inneren wird in einem 360-Grad-Panorama die heutige Umgebung mit dem ehemaligen KZ kontrastiert. Auf einen Tisch sollten zudem die Namen nahezu aller Häftlinge projiziert werden – mit 90 exemplarischen Kurzbiografien. Sollten. Die Technik ist ausgefallen, die Projektion funktioniert schon seit Monaten nicht mehr. In diesen Kubus, so die Befürchtung des Vereins, soll nun die gesammelte Erinnerung an das KZ gepackt werden – auf dass sie andernorts nicht störe.

Der Bürgermeister versteht den Ärger nicht: Der Prozess sei transparent gewesen

Auch Robert Ilg ist verstimmt, versteht seine Hersbrucker Welt nicht mehr. Die Stellungnahme des Doku-Vereins hat ihn merklich getroffen. Der Bürgermeister sitzt in seinem Amtszimmer und schüttelt den Kopf. Draußen bringen Arbeiter von einer Hebebühne aus gerade die Weihnachtsdekoration an der Fassade des Rathauses an. Ilg, ein Freier Wähler, der hier schon seit 2010 residiert, fühlt sich über jeden Verdacht erhaben, „unachtsam oder unsensibel mit dem Gelände des ehemaligen KZ“ umzugehen.

Man habe doch immer gut mit dem Verein zusammengearbeitet, erzählt Ilg. Vor dessen Stellungnahme habe es zwei Gespräche mit Leuten des Vereins gegeben. Er habe zur Kenntnis genommen, dass da noch offene Fragen und der Wunsch nach Mitgestaltung seien – was er auch sehr ernst nehme. „Ich hatte gedacht, wir hätten in den Gesprächen einen Weg definiert, den wir gemeinsam gehen können.“ Und dann das. Es sei ja auch nichts im Verborgenen vorbereitet worden. Der gesamte Planungsprozess sei öffentlich debattiert worden. „Das hat jetzt auch ein bisschen unser Verhältnis belastet, das muss man sagen.“

Es hätte, so Ilg, gute 20 Jahre Gelegenheit gegeben, sich mit dem Thema der weiteren Veränderung des Geländes auseinanderzusetzen. Auch bei dem Bau des Finanzamts habe er diese Vehemenz nicht verspürt. „Und ich persönlich halte es für würdevoller, wenn dort Menschen mit Betreuungsbedarf Wohnraum gegeben wird, als wenn dort Tennis gespielt wird.“

 Ähnlich sehen das auch Karl Freller und Jörg Skriebeleit – zwei, die in Sachen Erinnerungskultur zu den wichtigsten bayerischen Wortführern zählen. Freller (CSU) ist Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten und Vizepräsident des Landtags, Skriebeleit leitet die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Entscheidend sei, sagen beide, dass es auf dem Gelände keinerlei Elemente aus dem KZ mehr gebe. Ein Altenheim auf dem ehemaligen Appellplatz? Damit haben beide kein Problem. Allerdings, findet Freller, müsse man die besondere Bedeutung dieses Grundstücks in der Planung des Baues schon berücksichtigen.

Dafür hat Freller auch schon zwei ganz konkrete Vorschläge: Zum einen sollte Diakoneo das Heim doch nach einem oder mehreren der Häftlinge benennen. Zum anderen wünscht sich Freller an einer gut frequentierten Stelle am Rande des Geländes ein wetterfestes, dreidimensionales Modell der Anlage, das erkennen lässt, wo und wie groß das KZ war: „Damit die riesige Dimension erkennbar wird. Damit die Leute, die vorbeigehen, neugierig werden und sagen: Allmächd, so groß war das.“

Doch ist es wirklich so einfach, der besonderen Geschichte dieses Ortes gerecht zu werden? Immer wieder steht da das Argument des heiligen Bodens im Raum, vorgebracht auch von Mitgliedern des Doku-Vereins. Auf diesem Boden seien Menschen gestorben, heißt es dann, und zwar massenweise. Da verbiete sich jede Bebauung. Dem entgegnet Freller: „Wenn auf diesem – ich zitiere – heiligen Boden künftig Menschen am Lebensende gepflegt werden und man sich sorgenvoll um sie bemüht, ist das genau der Antipode zu dem, was dort vor 80 Jahren stattgefunden hat. Was kann es Besseres geben, als dass auf einer Fläche, wo hasserfüllt gemordet wurde, jetzt in Nächstenliebe gepflegt wird?“

Auch für Jörg Skriebeleit kann es nicht das oberste Gebot sein, solche Flächen frei zu halten. „Wenn man diese Haltung anlegen würde, dann müsste man Tausende von Orten, die ganz normal in Stadtgesellschaften oder Dörfer integriert sind, stilllegen und alle ehemaligen KZ-Außenlager, Kriegsgefangenenlager und Zwangsarbeiterlager zum heiligen Boden erklären. Theoretisch kann ich das nachvollziehen, ich halte es aber weder für moralisch geboten noch für praktisch umsetzbar.“

Bürgermeister Ilg hat nun einen Runden Tisch vorgeschlagen, an dem sich Doku-Verein, Stadt, Vertreter der Gedenkstättenarbeit sowie Diakoneo zusammensetzen sollen. Das Heim, so viel zeichnet sich bereits ab, wird kommen, aber man wird wohl wieder miteinander reden. Und es wird Ansätze geben, wie trotz Bebauung die Erinnerung aufrechterhalten werden kann. Ein Interesse, das laut Ilg auch der Heimbetreiber verfolgt. Dass das Gedenken an das Gelände „vollkommen ausradiert“ wird, wie Thomas Wrensch fürchtet, will nach eigenem Bekunden niemand der Beteiligten.

Kulturwissenschaftler: Man kann doch nicht alle belasteten Orte frei halten

Anstatt Flächen um jeden Preis frei zu halten, plädiert Kulturwissenschaftler Skriebeleit ohnehin für eine vielfältige Form der Erinnerungskultur, die vor allem den Diskurs unterstützt. Das könne der Ortschronist sein, der Akten aufspürt oder Opfer und Todesmarschrouten identifiziert. Das könne die Kunstinitiative sein, die in historisch belasteten Räumen agiert, aber dabei immer auch wieder die Vergangenheit thematisiert. Und das könnten natürlich auch diverse Schulprojekte sein. Das sei viel schwieriger, als „irgendwelche Tabuzonen zu errichten“.

„Wir dürfen uns nicht auf einem zivilreligiösen Mantra des ,Nie wieder!‘ ausruhen“, sagt Skriebeleit, „sondern müssen dieses ,Nie wieder!‘ ständig neu ins gesellschaftliche Bewusstsein bringen oder aus diesem herausholen. Sonst ist es nur Geschichte.“ (Dominik Baur)

Kommentare (1)

  1. Thomas Wrensch Dokumentationsstätte am 16.12.2021
    Der Verein Dokumentationsstätte hat sich nie gegen eine Bebauung und Nutzung des ehemaligen KZ- Geländes ausgesprochen.
    Er vertritt die Überzeugung, dass es einen Unterschied macht, ob man ehemalige Tennisplätze bebaut, oder den Appellplatz mit Galgen eines ehemaligen Konzentrationslagers.
    Er möchte sich gemeinsam mit der Stiftung Bayerische Gedenkstätten und der Gedenkstätte Flossenbürg an den Planungen beteiligen.
    Das gesamte Gelände soll ein vorzeigbarer und würdevoller Ort sein, der als Gedenkort erkennbar ist. Er soll werbend und bleibend die Erinnerungskultur für Hersbruck, Landkreis und Gäste aus dem In- und Ausland umsetzen.
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