Leben in Bayern

Wasili und Vitali kümmern sich um das Federvieh – die Männer auf dem Hof sorgen selbst für ihren Unterhalt. (Foto: Mathias Wild)

04.01.2013

Plötzlich macht das Leben wieder Spaß

Außergewöhnliches Projekt: Im Ostallgäu lernen zwölf suchtkranke Männer auf einem Bauernhof, ihr Leben zu meistern – ohne Drogen

Der junge Mann am Herd hat alle Hände voll zu tun. Nur noch ein paar Minuten, dann muss das Essen auf dem Tisch stehen. Er lupft den Deckel des einen Topfes und schaut hinein. Dann ein prüfender Blick in den anderen Topf. Und er darf nicht vergessen, die Schnitzel in der riesigen Pfanne zu wenden. 13 hungrige Mägen sollen gestillt werden – hier auf dem Hof der guten Hoffnung in Irsee im Ostallgäu.


Mit 11 Jahren Bier und Wein, mit 15 harte Drogen


Der junge Mann am Herd wäre vor wenigen Monaten an dieser Aufgabe wohl noch gescheitert. Damals lebte er in seiner ganz eigenen Welt, in der nur seine Sucht Platz hatte: Bis zu 14 Stunden am Tag verbrachte er mit Spielen am Computer. Keine Pause, keine Gespräche mit anderen, keine persönlichen Kontakte. Ein Gefangener, ein Getriebener, unfähig, verantwortungsvoll zu leben. Nun verbringt er den Vormittag in der Küche, summt und pfeift vor sich hin, lächelt, wenn jemand vorbeikommt und ihm anerkennend auf die Schulter klopft.
Wer auf dem Gut Bickenried in Irsee, der Fazenda da Esperanca, wohnt, hat einen schwierigen Weg hinter sich. Und auch der Weg, der noch vor ihm liegt, ist nicht einfach. Zwölf junge Suchtkranke, vor allem Drogen- und Alkoholabhängige, haben auf dem Gut ein vorübergehendes Zuhause gefunden. Da ist zum Beispiel Moritz H., vor vor 35 Jahren in Mannheim geboren. Bald nach der Geburt des Sohnes lassen sich die Eltern scheiden. Moritz wächst bei der alkoholabhängigen Mutter in einer winzigen Wohnung auf, seinen Vater lernt er zunächst nicht kennen. Bier und Wein gibt es zur Genüge zu Hause – mit elf  Jahren greift auch Moritz zum ersten Mal zum Glas. Hinzu kommen: Zigaretten, Joints, Schnaps. Mit 15 nimmt er noch härtere Drogen. Er ist mittendrin in einem Kreislauf, der ihn bald in den Jugendknast führt. Um an den Stoff zu kommen, knackt Moritz zusammen mit anderen abhängigen Kumpels Autos, steigt in fremde Wohnungen ein, raubt Geld.
Seit fünf Jahren betreibt Pfarrer Christian Heim (44) die Fazenda in Irsee. Der Hof steht unter dem großen Dach der Fazenda da Esperanca, einer einst in Brasilien vom Franziskaner-Pater Hans Stapel gegründeten Lebensgemeinschaft, die inzwischen über 70 Einrichtungen weltweit auf die Beine gestellt hat. Nicht wenige Menschen haben auf dem Hof  aus  der Sucht herausgefunden.
Die Bevölkerung war anfangs nicht sehr begeistert von Heims Projekt. Kriminelle Suchtkranke – wer will die schon im eigenen Ort haben? Es gab damals viele Gespräche mit den Nachbarn. Der Bezirk Schwaben, Inhaber der Immobile Gut Bickenried, und auch Kirchenverantwortliche standen dem Projekt positiv gegenüber, ebenso der Irseer Bürgermeister. Auch der damalige Bischof Walter Mixa stellte sich hinter das Projekt. Das half, den Menschen ihre Ängste und Befürchtungen zu nehmen.
Moritz hat schon oft einen Entzug gemacht. Ebenso oft ist er für Wochen oder Monate hinter Gittern gesessen. Doch dann taucht eines Tages sein Vater im Gefängnis auf. Er verspricht Moritz, ihn zu sich in die Wohnung zu holen und sich um eine Lehrstelle für ihn zu kümmern. Kurz darauf stirbt die Mutter an Leberzirrhose. Ein paar Wochen nach ihrer Beerdigung wird Moritz entlassen. Für kurze Zeit läuft sein Leben tatsächlich in einigermaßen geordneten Bahnen. Er beginnt eine Lehre als Maler und Lackierer. Bald glaubt er, auf eigenen Beinen stehen zu können und zieht beim Vater aus. Ein Trugschluss. Moritz wird rückfällig, greift erneut zu Drogen und landet wieder im Entzug.


Alkohol und Zigaretten sind streng verboten


Pfarrer Heim will den Menschen auf dem Hof deutlich machen, was es heißt, wirklich sinnvoll zu leben. Verlässlich zu arbeiten. Verantwortung zu übernehmen. Dem Mitmenschen Respekt entgegenzubringen. Und auch auf christliche Werte zu achten. Nach einem Jahr sollen sie so weit sein, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Natürlich gab es auch einige, gesteht Heim, die einfach ihre Koffer gepackt hätten und abgereist seien. Etwa 50 Prozent seiner Klienten aber halten durch und sind bereit, die strengen Regeln einzuhalten. Es gilt ein striktes Rauch- und Alkoholverbot. „Da gehe ich lieber wieder ins Gefängnis. Dort kann ich wenigstens rauchen“, sagte schon so mancher zu Pfarrer Heim.
Der Tag auf Gut Bickenried beginnt um sechs Uhr morgens. Nach dem Frühstück geht es in die kleine Kapelle zum Gebet. Jeden Tag wird ein Satz aus der Bibel auf eine Tafel geschrieben. „Diesen Satz“, sagt Pfarrer Heim, „soll jeder nach seinem eigenen Empfinden bis zum Abend umsetzen.“ An diesem Tag lautet er: „Das Haus auf Fels bauen.“ Stabilität ist ein wichtiges Stichwort für die Menschen auf dem Hof. Von acht Uhr  bis um fünf Uhr abends wird gearbeitet, unterbrochen vom Mittagessen um 12 Uhr. Zu tun gibt es genug. Die zwölf Männer und der Pfarrer, der  eng mit dem Kaufbeurer Bezirkskrankenhaus zusammenarbeitet, finanzieren sich weitgehend selbst. Mit dem Versand von Büchern für „Kirche in Not“ sowie Einkünften aus einem kleinen öffentlichen Café und einem Laden, in dem selbst gemachte Marmelade, Sirups und Gebasteltes verkauft werden. Auf dem Hof gibt es zudem Enten, Gänse, Hasen, Hühner, Schafe und Schweine. Der Bezirk stellt das Gut für einen symbolischen Beitrag in Erbpacht zur Verfügung. Pfarrer Heim: „Gleichwohl sind wir auf Spenden angewiesen. Vor allem, weil wir zurzeit einen Trakt des Guts umbauen und sanieren.“
Im Entzug in Stuttgart hört Moritz von der Einrichtung einer Fazenda. Er will nicht mehr so weitermachen wie bisher. „Ich will irgendwann ein normales Leben führen“, sagt er zu sich selbst – und schreibt eines Tages einen Bewerbungsbrief an die Fazenda in Irsee. Nach ein paar Tagen bekommt er die Antwort – eine Zusage. Ein halbes Jahr war Moritz auf dem Hof im Ostallgäu, dann ein Jahr auf einer Fazenda in Brasilien. Nun ist er wieder in Irsee, ehe es für ihn in eine ähnliche Einrichtung in der Schweiz geht.
Heute sagt Moritz Sätze wie: „Ich kann am Abend endlich ruhigen Gewissens einschlafen.“ Oder: „Alkohol und Zigaretten interessieren mich nicht mehr.“ Und: „Ich habe zwar keine bestimmten Zukunftspläne, aber das Leben macht mir wieder Spaß.“ Moritz hat Kraft und innere Stärke bekommen, um innerhalb der Fazenda problemlos Verantwortung zu übernehmen und viele Dinge zu organisieren. Das lässt ihn auf ein normales Leben auch außerhalb der Gemeinschaft hoffen.
Nicht zuletzt Beispiele wie Moritz geben Pfarrer Heim die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Auch wenn es immer wieder Enttäuschungen gibt. „Natürlich bin ich wiederholt belogen und betrogen worden.“ Und doch ist er von seiner Aufgabe im Ostallgäu  überzeugt. (Freddy Schissler)

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