Was treibt ein junges Mädchen im Winter in München auf die Straße? Das haben sich 23 Studentinnen der Münchner Fachakademie für Sozialpädagogik gefragt. Und daraus ein außergewöhnliches Buch über obdachlose Jugendliche gemacht. Invisible … wenn Wirklichkeit verdrängt wird heißt der 160 Seiten starke Roman, der im Rahmen des Projekts „Buch macht Schule. Schule macht Buch“ entstanden ist – ein Bildungsprojekt der Regensburger Autorin Carola Kupfer und des Verlegers Wolfgang Schröck-Schmidt.
„Oh nein, bitte nicht – gerade heute bin ich doch ganz allein!“ Das Buch beginnt damit, dass die 18-jährige Jenny frierend in ihrem Schlafsack unter der Reichenbachbrücke liegt, als sie von betrunkenen Männern bedrängt wird. Laut dem Münchner Sozialreferat sind etwa 1600 Jungen und Mädchen in der bayerischen Landeshauptstadt obdachlos. Tendenz steigend. „Obdachlosigkeit ist ein großes Problem in München, man sieht ja viele Betroffene auf der Straße“, erklärt Kurssprecherin Anna Gratzl (21). „Aber die meisten Menschen ignorieren diese Tatsache.“
Die Regensburger Autorin Carola Kupfer hat die jungen Frauen von der Fachakademie der Armen Schulschwestern gemeinsam mit der Deutschlehrerin Elisabeth Hanke gecoacht. „Das ist ein mutig gewähltes Thema und passt zu unserer Stifterin Theresia Gerhardinger“, erklärt Schulleiterin Gisela Hörmann. „Für mich war schnell klar, dass wir so ein Engagement mit allen Mitteln unterstützen wollen.“ Die Theresia-Gerhardinger-Stiftung hat etwa die Hälfte der Kosten für das Buch übernommen.
Obdachlose Jugendliche reden ungern über ihre Probleme
In dem Roman schlägt sich Jenny mit ihrer Freundin Roxy auf der Straße durch. Nachdem die überforderte Mutter sie regelmäßig schlug, kam das Mädchen erst in ein Heim und anschließend in eine Pflegefamilie, von der sie weglief. Drogen, eine Schwangerschaft ihrer Freundin, aber auch Erfahrungen mit Hilfsorganisationen spielen in dem Buch eine Rolle. Drogenabhängige tauschen zum Beispiel bei dem Verein Hope e.V. alte Spritzen gegen neue, um die Infektionsgefahr abzuwenden. Für ihre Recherchen suchten die Autorinnen verschiedene Hilfsangebote auf. „Eine Gruppe hat zum Beispiel mit dem Leiter einer Teestube gesprochen, eine andere das Angebot der Bahnhofsmission abgefragt“, erzählt Gratzl. Wieder eine andere ist im Bus der Ärzte der Welt mitgefahren.
Obdachlose Jugendliche selbst konnten die Studentinnen leider nicht befragen. „Die reden ungern mit anderen über ihre Probleme“, erklärt Studentin Regina Neuhäuser. „Viele tauchen ja bewusst ab, weil es in der Familie einfach nicht mehr funktioniert oder sie Gewalt erfahren haben.“ Was die Frauen bei der Recherche ziemlich geschockt hat, seien die Katakomben unter dem Hauptbahnhof gewesen, so Neuhäuser. „Dort unten sind viele Drogenabhängige und Obdachlose. Unvorstellbar, was da unten alles passiert, wovon die Leute oben nichts wissen.“ Selbst waren die Studentinnen nicht in dem unterirdischen Labyrinth. Das wäre zu gefährlich gewesen. Stattdessen haben sie eine Filmdokumentation gesehen.
Beklemmend finden die Autorinnen auch, dass die obdachlosen Jugendlichen aus allen sozialen Schichten kommen. Ein Grund sei oft Gewalt in der Familie. Manche Jugendliche aber kämen auch aus gut etablierten Familien, so Gratzl. Ihnen werde zum Beispiel der Leistungsdruck zu groß.
Die großen Gefahren auf der Straße: drogenabhängig werden, verwahrlosen oder stehlen. „Es gibt aber auch andere, die keinen Alkohol trinken und einfach ihre Ruhe wollen“, erzählt Studentin Antonia Pleyer. Man dürfe da nicht pauschalisieren. „Oft kommen die Menschen aus ihren schweren Lebenssituationen aber nicht mehr allein heraus.“
Für die Polizei ist es nicht leicht, untergetauchte Jugendliche zu finden. „Oft holen sie sich ja ihr Essen in den Suppenküchen oder in der Teestube, wo sie nicht erfasst werden, denn dort herrscht Schweigepflicht“, erklärt Neuhäuser. Katharina Kolar ergänzt: „Die Mitarbeiter der Teestube haben uns erzählt, wie lange es dauert, bis sich Jugendliche den Betreuern öffnen und eine echte Vertrauensbeziehung entsteht.“ Die wollen die Mitarbeiter nicht aufs Spiel setzen.
Wenn es kalt wird, können die Jugendlichen in der Bahnhofsmission übernachten. Oder aber sie schlafen einfach auf der Straße, zum Beispiel unter der Reichenbachbrücke wie Jenny im Roman. Dort haben sich die Studentinnen die Matratzenlager angesehen. „Wer auf der Straße landet, fällt aus allen bisherigen Netzwerken heraus. Die Jugendlichen gehen aus Angst vor der Polizei nicht mehr in die Schule, sie sammeln oft Pfandflaschen, um zu überleben“, erzählt Neuhäuser.
Ein Ziel der jungen Frauen: Politiker zu sensibilisieren
In ihr Buch, das in sechs Monaten entstand, steckten die jungen Autorinnen viel Arbeit. Mit der Autorin Kupfer haben sie an einem Tag den Plot erstellt. Dann teilte sich der Kurs in zumeist Dreiergruppen auf, die jeweils ein Kapitel erarbeiteten. Online konnte jede Gruppe die Arbeit der anderen verfolgen. „Dabei sind wir als Klasse und auch als Schulgemeinschaft zusammengewachsen“, erklärt Selina Liszewski.
Damit alle Details stimmen, haben die angehenden Erzieherinnen einen großen Aufwand betrieben. „Wir sind zum Beispiel die Wege der Protagonisten abgelaufen und haben darauf geachtet, welche Geräusche man dabei hört, was man sieht oder riecht“, erzählt Gratzl. Aber sie haben auch Artikel gelesen, in denen ihnen viele Vorurteile gegenüber Obdachlosen begegnet sind. „Die wollen ja gar nicht arbeiten, das sind alles Bettelbanden, zum Beispiel“, sagt Antonia Pleyer. Im Roman steht die Figur des Journalisten Max für die vielen Menschen mit solchen Vorurteilen. Doch als der Obdachlose und ihre Schicksale kennenlernt, wandelt er sich zum verständnisvollen, aktiv helfenden Menschen. „Diese Entwicklung wünschen wir uns auch für die Leser und unsere Gesellschaft“, betont Pleyer.
Auch deshalb hoffen die jungen Autorinnen auf großes Interesse in der Leserschaft. Bislang wurden 800 Exemplare gedruckt, bei Bedarf wird nachbestellt. Die Studentinnen haben kleine Buchläden abgeklappert, ihren Schreibprozess bei Instagram dokumentiert und sogar eine Pressekonferenz gegeben. Außerdem suchten sie Sponsoren. Dass auf der Spenderliste auch Landtagspräsidentin Ilse Aigner und der CSU-Abgeordnete Benjamin Miskowitsch zu finden sind, dürfte die Autorinnen freuen. Denn Gratzl betont: „Wir wollten mit unserem Buch auch Politiker für diese Menschen und ihr Schicksal sensibilisieren, damit mehr Schlafplätze und Möglichkeiten für Obdachlose geschaffen werden.“
(Lucia Glahn)
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