Nicht alle Menschen mit einem Handicap sind bereit, in eine Behindertenwerkstatt zu gehen. 2018 machte das Bundesteilhabegesetz den Weg endlich frei für eine neue Option: „Andere Leistungsanbieter“, so der Fachjargon, dürfen seither Alternativen bieten. Bei „Mitten im Leben“ (MiL) in Klingenberg arbeiten Menschen mit dem Ziel, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Es kam vor drei Jahren fast einem Tabubruch gleich, als das „bewährte“ System aufgeweicht wurde. Bis dahin waren Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, in der Szene WfbM genannt, quasi sakrosankt. Für Menschen mit Handicap, die nicht in solch einer Werkstatt arbeiten wollten, gab es keine Alternative. Doch 2018 machte das Bundesteilhabegesetz den Weg frei für eine ganz neue Option: „Andere Leistungsanbieter“, so der Fachjargon, dürfen seither eine Alternative bieten. Die von Yvonne Schnellbacher gegründete Organisation „Mitten im Leben“ (MiL) in Klingenberg im Landkreis Miltenberg ist der erste Andere Leistungsanbieter in Unterfranken.
Garten, Laden, Werkstatt: Es gibt viele Arbeitsoptionen
Anfangs wurde die neue Option misstrauisch beäugt. „Inzwischen habe ich das Gefühl, dass wir uns langsam etablieren“, sagt Schnellbacher, deren alternatives Angebot am 1. November sein einjähriges Jubiläum feiern kann. Vier Männer mit einer seelischen Erkrankung sind aktuell bei ihr beschäftigt. Eine fünfte Person, eine 46-jährige Frau, wird aller Voraussicht nach in Kürze einsteigen.
Plötzlich chronisch psychisch krank zu sein, muss man erst einmal verdauen. Anders als bei vielen Menschen mit körperlichem Handicap, ist ihr Leiden nicht angeboren, sondern erworben. Im Klingenberger Teilhabezentrum arbeiten Menschen, die früher voll im Berufsleben integriert waren. Bis sie krank wurden. Auf diesen biografischen Bruch nehmen klassische Werkstätten Rücksicht. Darauf geht aber natürlich auch MiL ein. Bei Schnellbacher wird nicht nur gearbeitet. Ein Sozialdienst ist zur Stelle, wenn sich jemand psychisch in einem Loch befindet.
Die Schlüsselfrage im Teilhabezentrum lautet: Was braucht ein konkreter Mensch, der sich bei MiL stabilisieren möchte, damit er reelle Chancen hat, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen? Wo die Männer eingesetzt werden, ist darum ganz unterschiedlich. Es gibt eine Holzwerkstatt. Kabel werden konfektioniert. „Im Moment verpacken wir Weihnachtsgeschenke“, sagt die MiL-Gründerin. Auch gärtnerische Arbeiten werden erledigt. „In der letzten Zeit haben wir außerdem verschiedene Betriebe besichtigt.“ Unter anderem wurde die Schiffswerft in Erlenbach am Main besucht, dort hatte einer der Teilnehmer früher seine Ausbildung absolviert.
Ein anderer der vier MiL-Teilnehmer war zuvor in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, erzählt Schnellbacher. Das habe ihm überhaupt nicht gefallen. Und dahin möchte er nicht mehr zurück. Wie gut dem Quartett die Arbeit, vor allem aber auch das Miteinander im Teilhabezentrum tut, lässt sich für die MiL-Chefin vor allem daran ablesen, dass kein Einziger in den letzten zwölf Monaten in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Das sei ein großer Erfolg, denn wiederkehrende Psychiatrieaufenthalte seien im Fall einer schweren psychischen Erkrankung alles andere als selten.
Wer nichts riskiert, kann auch nichts gewinnen: Nach dieser Devise wagte es Schnellbacher, ein alternatives Angebot zur Werkstatt zu gründen. Der Weg dorthin sei ziemlich dornig gewesen, gibt sie zu. Insgesamt drei Jahre dauerte es, bis der Antrag vom Bezirk Unterfranken genehmigt war. In dieser Zeit war die Betriebswirtin allerdings nicht arbeitslos. Bereits seit 2016 gibt es im MiL-Zentrum ein Zuverdienstprojekt. Daran nahm zum Beispiel Ulrich S. teil. Im Dezember 2020 wechselte er dann in die Sparte „Anderer Anbieter“. Denn der Handwerker, der in die Alkoholsucht abgerutscht war, hat ein festes Ziel vor Augen: „Ich möchte wieder auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen.“
Aktuell hat Ulrich S. davor allerdings noch zu viel Angst. Was, wenn die Sache am Ende nicht klappt? „Im Moment traut sich noch keiner unserer vier Teilnehmer diesen Schritt zu“, sagt Schnellbacher. Das sei auch nicht schlimm: „Wir haben keinen Zeitdruck.“ Erleichtert würde der Wechsel, könnten die Beschäftigten das sogenannte Budget für Arbeit in Anspruch nehmen. Der künftige Chef würde bei diesem Modell dann einen hohen Zuschuss zu den Lohnkosten erhalten. Noch wichtiger: Scheitert der Wiedereinstieg, wäre es für den Betreffenden unbürokratisch möglich, ins Teilhabezentrum zurückzukehren. Schnellbacher hofft, dass der Bezirk dieses Budget bald gewähren wird.
„Ich bin doch viel zu fit für eine Behindertenwerkstatt“
Menschen mit Handicap sollen möglichst in dem Quartier arbeiten, wo sie auch wohnen. Und eben nicht weit weg in großen, zentralen Sondereinrichtungen irgendwo an der Peripherie. Dafür setzt sich der Bezirk Unterfranken seit einigen Jahren ein. Inzwischen ist es auch viele Dutzende Male gelungen, Beschäftigte aus Werkstätten herauszuholen. Sie arbeiten zum Beispiel in der Kita ihres Wohnorts. Oder auf dem Bauhof. Auch Schnellbacher versucht, solche Außenarbeitsplätze aufzutun. Einer ihrer vier Männer ist inzwischen zweimal in der Woche als Lieferfahrer bei einer nahe gelegenen Firma tätig: „Dort jeden Tag zu arbeiten, wäre allerdings für ihn im Moment noch zu viel.“
Menschen mit Handicap lehnen sich zunehmend dagegen auf, bevormundet zu werden. Ein großer Teil steht Sondereinrichtungen aus eben diesem Grund skeptisch gegenüber. Dort, haben sie das Gefühl, wird man nicht ganz für voll genommen. „Wir bei MiL legen sehr großen Wert auf Selbstbestimmung und wirken auf größtmögliche Selbstständigkeit hin“, sagt Schnellbacher. Das bedeutet auch, dass der Sozialdienst Probleme nicht für die Betroffenen löst. Es gibt zwar Rat und Hilfe. Doch es wird nicht einfach alles abgenommen. Das spornt an, das Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Ulrich S. zum Beispiel ist gerade dabei, seinen verlorenen Führerschein noch mal zu erwerben.
Die Pandemie machte es für Schnellbacher nicht eben einfacher, ihr ambitioniertes Projekt zu starten. Das Teilhabezentrum wurde durch die Corona-Krise gehörig in Mitleidenschaft gezogen. Bekanntlich waren die Werkstätten in den Lockdown-Phasen dicht. Doch die kreative Betriebswirtin wollte die Menschen, die bei ihr eine Tagesstruktur gefunden hatten, nicht alleinlassen. Sie ging auf die Firmen zu, die bei MiL zum Beispiel Kabelkonfektionierungen in Auftrag geben: Wäre es nicht möglich, dass dies in Heimarbeit erledigt wird? Es war möglich. Und zwar sowohl im Zuverdienstbereich als auch seit Ende letzten Jahres in der Sparte Anderer Anbieter.
Schnellbachers nächstes Ziel: Sie will die Zahl der Beschäftigten bis November 2022 verdoppeln. Eine Beschäftigungsgenehmigung hat sie für zwölf Menschen. Das Aufnahmeverfahren ist aber nicht ganz unkompliziert, weshalb es dauert, bis die Kapazität ausgeschöpft sein wird. Im Gegensatz dazu boomt der Zuverdienstbereich. Hier sind gerade 25 Menschen mit einer schweren psychischen Erkrankung tätig. Viel mehr noch hätten Interesse: „Wir haben leider eine Warteliste.“
Dass sie endlich zwischen verschiedenen Optionen wählen können, schätzen die Erkrankten sehr. „Für eine Behindertenwerkstatt wäre ich einfach zu fit“, sagt etwa Ulrich S. Er hatte in der DDR ein eigenes Geschäft. Mit der Wende ging die Firma kaputt. In Unterfranken fand er einen Betrieb, bei dem er 23 Jahre schwer malochte. Infolge mehrerer Schicksalsschläge brach er irgendwann zusammen. Was aber an Kreativität in ihm steckt, zeigt sich an den schönen Sachen, die er für den MiL-Laden „facettenReich“ produziert. Der dient im Übrigen nicht allein dazu, Einnahmen zu generieren, sondern stellt einen eigenen Trainingsbereich für die Beschäftigten dar. (Pat Christ)
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