Leben in Bayern

Tablet und Handy gehören an vielen Schulen zum Unterricht dazu. (Foto: dpa/Schuldt)

12.04.2024

Sendepause fürs Smartphone

Kinder und Jugendliche lieben Handys und Tablets – auch im Unterricht kommen diese immer häufiger zum Einsatz: Ist das tatsächlich sinnvoll?

Es ist 13 Uhr. An einer Bushaltestelle vor einer Schule in Dingolfing stehen rund 60 Schüler*innen und warten auf ihren Bus. Alle blicken auf ihre Smartphones. Statt Gesprächen ist vielstimmig der blecherne Ton von Videos, die die Jugendlichen gebannt ansehen, zu hören. Auch als der Bus kommt und ein Teil einsteigt, wendet kaum jemand seinen Blick vom Display.

Wenn der Schulgong das Ende des Unterrichts ankündigt, ist der erste Griff meistens der in die Schultasche oder in den Rucksack nach dem Handy. Jedes „Pling“ elektrisiert. Doch nicht nur in der Freizeit, auch im Unterricht führen Tablets und Handys oft zur unerwünschten Ablenkung: Der Bayerische Philologenverband (bpv) hat vor Kurzem eine Umfrage unter seinen Mitgliedern gestartet und dabei rund 3500 Rückmeldungen bekommen. Der Tenor: 89 Prozent der befragten Lehrkräfte aller Altersklassen sprechen sich für verstärktes analoges Lernen statt allumfassender Digitalisierung an Gymnasien und in der FOS/BOS aus.

Die Forderung des bpv: Angesichts des hohen Ablenkungspotenzials digitaler Endgeräte sollte deren Nutzung erst im Verlauf der Mittelstufe zum Einsatz kommen. Die Mehrheit der 3500 Teilnehmenden sieht zudem Handlungsbedarf bei den Regeln zur privaten Handynutzung an den Schulen.

Integration statt Verbannung

So einen Weg geht derzeit die Ursulinen-Realschule in Straubing. Dort ist im März ein Pilotversuch angelaufen, der bis zum Ende des Schuljahrs dauert. Die Schule nutzt eine App des Oberpfälzer Start-ups TimeRiver. „Wir setzen dabei auf Eigenverantwortung statt auf Verbote“, sagt Ideengeber und TimeRiver-Geschäftsführer Michael Hübner. Realschulleiter Ludwig Erl erhofft sich, dass die App „das digitale Leben in der Schule einfacher macht“. Die mehrmonatige Testphase ist für die Realschule kostenlos. Kommt die App gut an, soll sie auch woanders Schule machen, dann natürlich kostenpflichtig.

„Der Schüler soll lernen, dass er nicht auf jedes ‚Pling‘ reagieren muss“, erklärt Martin Völkl, Informatiker bei TimeRiver. Immerhin nutzen Völkl zufolge 13- bis 18-Jährige bis zu 540 Minuten pro Tag ihr Smartphone. 20 Prozent der Jugendlichen haben laut Untersuchungen diagnostizierbare psychische Erkrankungen.

Beginnt der Unterricht, stempeln sich die Schüler via TimeRiver-App ein und sind somit offline. Die Lehrkraft kann das auf ihrem Dashboard kontrollieren. Wenn sie dazu aufruft, einen Unterrichtsinhalt zu recherchieren, können sich die Schulkinder wieder ausstempeln und die Infos aus dem Netz ziehen. Das Ziel: „Das Smartphone ist nicht verbannt, sondern es ist im Unterricht integriert.“

„Genau so kann es gehen“, urteilt Tanja Hochegger, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Landshut. In ihrer Einrichtung hat sie es auch mit Abhängigkeit von Smartphone und Computerspielen zu tun – wie sie sagt, eine schwer therapierbare Krankheit, weil das „Suchtmittel“ allgegenwärtig ist. Rund 6 Prozent der Kinder und Jugendlichen in psychiatrischer Behandlung sind mediensüchtig.

Was den Unterricht betrifft, ist die Expertin jedoch nicht prinzipiell gegen den Einsatz der Technologie. „Aber es braucht ein Gesamtkonzept“, sagt sie. Es gelte, die Kinder frühzeitig anzuleiten, mit dem Smartphone richtig umzugehen, „denn sie nehmen es ohnehin in die Hand“.

Hocheggers Beobachtung: Jugendliche greifen immer früher auf pornografische Seiten zu. „Was dort zu sehen ist, hat ganz wenig mit Sex in einer Partnerschaft zu tun, und es ist wichtig, frühzeitig mit den jungen Menschen darüber zu reden, auch in der Schule.“ Auch sei es wichtig, den Mädchen zu vermitteln, dass nicht allein die Schönheitsideale gelten, die Influencer zeigen. „Schon in der Unterstufe sollte man außerdem den Jugendlichen erklären, wohin ihre Fotos bei Tiktok und sozialen Medien verschwinden und dass nicht jeder, mit dem sie schreiben, auch derjenige ist, für den er sich ausgibt.“

Matthias Keller, Chefarzt der Kinderklinik Dritter Orden in Passau, gibt ein Plädoyer für analogen Unterricht ab und erklärt: „Gerade in jungen Jahren erlernen wir Grundfähigkeiten, die für unsere spätere Entwicklung unverzichtbar sind. Bücher und Stifte sind dabei wichtige Werkzeuge.“

Die große Gefahr der ständigen Ablenkung

Laptops und Tablets seien nicht geeignet, um Kindern und Jugendlichen den Umgang mit den sozialen, gesellschaftlichen, fachlichen und intellektuellen Fragestellungen der Zukunft zu vermitteln. „Ich appelliere dafür, die Digitalisierung als Mittel des Lernerwerbs und der Wissensvermittlung insbesondere an den Grundschulen und frühen Jahrgangsstufen mit Bedacht voranzutreiben.“

Dass die Gefahr der Ablenkung im Unterricht groß ist, findet auch Prisca Hagel, Lehrerin am Holbein-Gymnasium in Augsburg, selbst für höhere Klassen: „Die vielen Möglichkeiten, sich mit dem Tablet fremdzubeschäftigen, ziehen in der Mittelstufe viele Energien vom Unterricht ab. Nicht alle Schüler sind hier in der Lage, die zahlreichen Unterhaltungsmöglichkeiten, die das Tablet bietet, von dessen eigentlicher Funktion als unterstützendes Unterrichtsmittel zu trennen.“

Die richtige Balance der Nutzung digitaler Angebote im Unterricht sei immer eine pädagogische Entscheidung, erklärt bpv-Vorsitzender Michael Schwägerl: „Für manche Unterrichtsinhalte eignen sich analoge Methoden, für andere digitale. Manchmal bieten sich beide Wege an und die Lehrkraft entscheidet – vielleicht auch je nach Tagesform der Klasse –, was zum Setting besser passt.“

Der bpv-Vorsitzende warnt vor einer „Überdigitalisierung“ – besonders in den unteren Jahrgängen der weiterführenden Schulen – und stößt damit ins gleiche Horn wie Chefarzt Keller und Lehrerin Hagel. „In der Mittelstufe ist ein guter Zeitpunkt, digitales Lernen vermehrt anzubahnen – denn auch die sinnvolle Verwendung digitaler Endgeräte ist eine Kompetenz, die aufgebaut werden muss. Dieses Vorgehen wird durch die von uns durchgeführte Umfrage unter Lehrkräften bestätigt“, sagt Schwägerl. 

Digitale Inhalte seien an den entscheidenden Stellen bereits Teil des Lehrplans, nicht nur in Informatik, wo es unter anderem um das Programmieren geht, sondern auch in Fächern wie den Geisteswissenschaften, in denen zum Beispiel der Umgang mit Informationen aus dem Internet geübt werde. Dazu hat laut Schwägerl jede Schule ein Mediencurriculum, und der verpflichtende Medienführerschein, ein Wegweiser durch den Informationsdschungel, gehöre mittlerweile zum schulischen Alltag.

Die Gymnasien und die FOS/BOS müssten natürlich auch dem Anspruch gerecht werden, die jungen Menschen im Bereich des digitalen Lernens auf die Hochschule und das Berufsleben vorzubereiten. „Diesem Balanceakt gerecht zu werden, ist wohl die größte Herausforderung“, urteilt Schwägerl.

Die Mutter eines Sechstklässlers, der ein Gymnasium in München besucht, findet die Ergebnisse der bpv-Studie sehr wichtig: „Ich bin sehr für analoges Lernen für jüngere Schüler. Mein Sohn darf zu Hause sein Handy zu bestimmten Zeiten und unter unserer Anleitung nutzen. Ich beobachte aber, dass er schlecht einschlafen kann, wenn er abends zu viel auf sein Smartphone gesehen hat“, betont die 39-Jährige.

Ein großer Markt für die Handy-App

Vielfältige Auswirkungen von langer Handynutzung bei Kindern und Jugendlichen, auch auf Motorik und Sozialkompetenz, bestätigt Chefärztin Hochegger. Umso wichtiger sei die Rolle in der Schule. Auch bpv-Vorsitzender Michael Schwägerl unterstreicht: „Wir wollen keine Rolle rückwärts, sondern dass in Bayern die Rolle vorwärts gelingt. Deshalb sollten wir aus den Fehlern anderer Länder, die sie jetzt teilweise korrigieren, lernen und klüger vorgehen.“

In Straubing ist man gespannt auf die Ergebnisse, die durch die TimeRiver-App erzielt werden. Entwickler Michael Hübner sieht einen großen Markt. Es haben sich bereits weitere Schulen bei ihm gemeldet, die Interesse an einem Test haben: „Wir treffen damit offenkundig einen Nerv.“ (Melanie Bäumel-Schachtner)
 

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