„Für viele ist Einsamkeit das Problem Nummer eins“, sagt Ralf Emmerich und überquert die Kazmairstraße im Münchner Westend. „Am zweiter Stelle kommen soziale Probleme und die Gesundheit“, ergänzt der Sozialpädagoge und richtet seine Schritte zum Georg-Freundorfer-Platz. Dort ist gerade Wochenmarkt und die Leute kaufen Lebensmittel an den Ständen ein, während auf den Bänken der Grünanlage ein paar ältere Herren die wärmenden Strahlen der Märzsonne genießen. Diese Rentner wird Ralf Emmerich jetzt ansprechen und sich nach ihrem Befinden erkundigen.
Emmerich ist als Streetworker unterwegs, allerdings nicht für Jugendliche oder Obdachlose. Seine Zielgruppe sind Senior*innen im öffentlichen Raum – ein Pilotprojekt der Sozialarbeit in München: „SAVE“ – „Senior*innen aufsuchen im Viertel durch Expert*innen“, so der offizielle Titel seines Projekts. Der Münchner Stadtrat hatte es 2019 beschlossen.
Durchgeführt wurde es zunächst im Einzugsbereich von vier Alten- und Servicezentren (ASZ) der Stadt, darunter das Westend. Im Januar hat der Stadtrat aber beschlossen, das Projekt auf weitere fünf Stadtviertel auszudehnen. „Unsere Erfahrungen bestätigen, dass das Projekt SAVE eine wichtige Ergänzung unserer Angebote darstellt. Es bietet eine sehr niedrigschwellige Möglichkeit, mit älteren Menschen im öffentlichen Raum in Kontakt zu treten, die wir sonst nicht erreichen würden“, so die Dritte Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD). Denn viele der angetroffenen Personen hätten kein soziales Netz und würden sich nicht an die Hilfsinstitutionen wenden. Oder hätten den Kontakt dorthin verloren.
Das Projekt SAVE verfolgt das Ziel, die Lebenssituation dieser Senior*innen zu verbessern. „Dies geschieht durch individuelle Unterstützungsangebote bei der Alltagsbewältigung und durch Anbindung an das ASZ“, so offiziell die Projektbeschreibung. Und: „Sozialpädagogische Fachkräfte der ASZ sind auf festen Routen im jeweiligen Stadtteil an Orten unterwegs, an denen sich ältere Menschen regelmäßig aufhalten, und gehen auf diese zu. An stark frequentierten Plätzen bauen die Fachkräfte verlässliche und stabile Beziehungen zur Zielgruppe auf.“
Damit ist Sozialpädagoge Emmerich gerade beschäftigt. Er spricht mit der kleinen Gruppe älterer Herren, erläutert ihnen das Angebot des örtlichen Altenzentrums: Da gibt es Hilfestellung bei Problemen mit Behörden, gesundheitliche Beratung oder auch ein tägliches Mittagessen.
Seit Februar 2020 ist Emmerich zweimal die Woche im Viertel unterwegs – es war ein schwieriger Start unter Corona-Bedingungen. Die Stelle teilt er sich mit einer Kollegin. Und beide erfuhren, wie sehr Senior*innen mitunter unter Einsamkeit leiden. Das hat sich in Zeiten von Corona noch verschärft. Da war zum Beispiel die gut gekleidete ältere Dame, die am Rande einer Grünanlage mit ihrem Rollator saß. Emmerich und seine Kollegin spachen sie an – daraus wurde ein eineinhalbstündiges Gespräch.
Der Mann stirbt – und die Wohnung ist leer
Kurz nach Ausbruch der Corona-Pandemie musste die Frau wegen einer Erkrankung in die Klinik, blieb dort drei Monate lang. In dieser Zeit verstarb ihr Ehemann. Sie konnte wegen der Corona-Maßnahmen, der Isolation in den Krankenhäusern, keinen Abschied von ihm nehmen. Nach fünfzig Jahren Ehe kam sie nach dem Krankenhausaufenthalt wieder in die leere Wohnung zurück. Jetzt fühlt sie sich sehr einsam. „Ich habe einfach zugehört“, sagt Sozialpädagoge Emmerich.
Oder da ist der „Stammkunde“ auf dem Gollierplatz, der schon von Weitem grüßt. „Er freut sich, wenn er mich sieht“, sagt Emmerich. „Und dann ratschen wir halt ein bisschen zusammen.“ Der Mann hatte inzwischen ein Beratungsgespräch im ASZ.
Ängstlich und misstrauisch begegnet den beiden Streetworkern dagegen eine ältere Frau mit Alkohol- und Medikamentenproblemen,. „Ich weiß bis heute nicht, wie sie heißt“, berichtet Emmerich. Was aber auch gar nicht so wichtig sei, denn die Hilfsangebote und Beratungen gibt es auch anonym.
Die Einsamkeit – sie ist vor allem ein Problem in großen Städten. „Vielen Singlehaushalten geht es gut, solange die Leute berufstätig sind“, sagt Emmerich. Auch wenn die Familie vielleicht woanders lebt. „Im Alter macht sich das dann aber bemerkbar.“
Das Projekt der aufsuchenden Sozialarbeit für Senior*innen im öffentlichen Raum konnte seit dem Start in den vier Projektvierteln trotz der vielen Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie insgesamt 226 Menschen erreichen, so die bisherige Bilanz des Sozialreferats. Ein gutes Drittel von ihnen fand den Weg in Alten- und Servicezentren, zu Sozialbürgerhäusern oder anderen Hilfseinrichtungen.
(Rudolf Stumberger)
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