Leben in Bayern

Kleiner Ausflug in der Mittagspause: Manuel Rudel (Bild im Text) entspannt sich gerne in seiner olivgrünen Hängematte. (Fotos: Privat)

11.10.2019

Urlaub im Alltag

Immer mehr Städter entdecken Mikroabenteuer für sich – kurze, spannende Erfahrungen in der Natur

Es muss nicht immer die große Reise sein. Viele Abenteuer warten vor der Haustüre, passen zwischen zwei Arbeitstage oder sogar in die Mittagspause. Und sie belasten das ökologische Gewissen nicht. Mikroabenteuer sind ein neuer Trend, der vor allem in den Städten um sich greift. Rucksack packen, Isomatte ausrollen, in die Sterne gucken – die Möglichkeiten, etwas zu erleben, sind unendlich.

Die Isar macht es einem leicht. Auch mitten in der Stadt fließt sie wild und rauschend. Ideal für Münchner, um mal eben in die Natur einzutauchen. Am östlichen Ufer nimmt ein Mann das wörtlich, badet, schwimmt und wäscht dann, immer noch unbekleidet, ein paar Klamotten im Wasser. Hundert Meter weiter, auf der Westseite, macht ein anderer Tai-Chi. Pärchen sitzen zeitvergessen im Kies unter der Praterinsel. Am frühen Morgen, am Abend und im Schatten ist es kalt, aber in der Mittagssonne kann man noch an den Sommer glauben und daran, dass es zum Winter sehr lange hin ist.

An Tagen wie diesen ist auch Manuel Rudel, 41, gern am Fluss, spannt seine olivgrüne Hängematte zwischen zwei Bäume, döst ein wenig und erholt sich. Dann montiert er – Mittagspause beendet – das Ding wieder ab. Und radelt zurück ins Büro. Ein kleiner Ausflug nur, was für zwischendurch. Ein Mikro-Mikroabenteuer sozusagen. Aber für Manuel Rudel, der seinen „Seelenfrieden in der Natur sucht“, einer der richtig guten Momente im Leben.

In Großbritannien wirbt Abenteurer Alastair Humphreys dafür, abends mit Rucksack und Isomatte aufzubrechen und einen netten Platz auf einem Hügel zu suchen. Im Idealfall springt er nach einer solchen Nacht im Freien in einen See oder Fluss. Und ist zum Frühstück am Familientisch pünktlich zurück. Dank solcher Kurztrips, sagt Humphreys, sei er ein geduldigerer Vater und überhaupt: sein besseres Selbst.

Abenteuer, früher eine Sache von mehreren Wochen, großer Entfernung und maximaler Fremde, sind heute auch im Kleinformat attraktiv. Nah, schnell, effizient: Das belastet nicht das ökologische Gewissen. Schadet keinem. Und lässt sich, ist der Wille mal da, bequem realisieren.

Auch Christo Foerster findet: „Zwischen zwei Arbeitstage passt eine ganze Menge.“ Es gehe nicht darum, dem Alltag zu entfliehen. Sondern ihn durch kurze, spannende Erfahrungen in der Natur aufzufrischen. Gerade war der Autor, der den Trend in Deutschland mit seinen Büchern (Mikroabenteuer und Raus und machen) anschiebt, auf Einladung des Outdoorausrüsters Globetrotter einen Abend lang in München. Im Garten des Alpinen Museums erklärte er den fröstelnden Gästen sein persönliches Prinzip der Mikroabenteuer. Höchstens 72 Stunden darf eines dauern. Kein Auto, keine Bahn. Verlauf: unbekannt. Übernachtung: inbegriffen. Mut: erforderlich. „In einem Mikroabenteuer steckt etwas“, so Foerster, „woran man wachsen kann.“

Einem Burn-Out begegnet man am besten mit Bewegung

Einfach losziehen, unter freiem Himmel schlafen, Sterne gucken: Mag sein, dass es das schon immer gab. Aber jetzt hat es einen griffigen Namen. So kann man gut für die Sache trommeln und andere gewinnen, mitzumachen. Manuel Rudel ist das beste Beispiel. Seit vier Jahren leitet er die bayerische Mikroabenteuer-Facebookgruppe. 140 Mitglieder hat die Gruppe, Alter: von 20 bis Anfang 50. Man trifft sich nicht, schickt aber Fotos herum, von Hängematte und Outdoorausrüstung, Kaffeebecher, Pancakes unter Bäumen, Morgen- und Abendstimmung am See. Das motiviert, und Motivation können Abenteurer brauchen. Denn ganz einfach ist es für niemanden, Neues zu wagen. Schon gar nicht bei Regen, Kälte, Schnee.

Auch Manuel Rudel fotografiert viel, die Bilder summieren sich zu einem „Erinnerungstagebuch“, das er sich anschaut, wenn er drinnen hockt.

„Da ist einerseits die Sehnsucht nach mehr Abenteuer, mehr Natur, mehr frischem Wind um die Nase, mehr Freiheit, Selbstbestimmung und magischen Momenten“, schreibt Christo Foerster. „Aber da ist auch der Alltag mit all seinen Verpflichtungen und betäubenden Dauerschleifen.“

Kulturkritik also. Auch das nicht neu. Die Entfremdung von der Natur beklagte schon Henry David Thoreau, Aussteiger für zwei Jahre und Autor von Walden, der Bibel all derer, die raus wollen. Thoreau schrieb sein Buch allerdings schon Mitte des 19. Jahrhunderts. Lange vor dem digitalen Zeitalter, das heute für die Entfremdung verantwortlich gemacht wird. GPS, Google Maps: „Alles wird einem mundgerecht serviert“, sagt Manuel Rudel. „So verkümmern die Sinne.“ Das Handy nimmt der Beamte auf seine Touren trotzdem mit. Um im Ernstfall einen Notruf abzusetzen.'

Früher habe auch er „den klassischen Fehler begangen, die Auszeiten auf dem Sofa zu verbringen.“ Wo man hofft, sich zu erholen, aber eigentlich immer schlapper wird. Inzwischen ist er überzeugt: „Rausgehen: Das ist in mir drin, wie viele andere Instinkte, die wir ignorieren.“

Einem Burn-Out, das weiß er aus eigener Erfahrung, begegnet man am besten, indem man sich in Bewegung setzt. Also packt er so oft wie möglich seine Sachen und fährt los: „Eigentlich beginnt die Freiheit erst hinterm Irschenberg.“ Aber während die meisten Genusswanderer Weg und Ziel genau kennen („Gipfel, Hütte, Kaiserschmarrn“), hat er keine Ahnung, wo es hingeht. „Ich mag das Gefühl, nicht zu wissen, wo ich lande.“ Querfeldein führen ihn seine Entdeckertouren. Er schläft, wo es ihm gerade passt. Nicht im Zelt, das ist fast überall verboten. Sondern in der Hängematte. Hoch über allem, was kriecht. Tiere machen ihm ansonsten keine Sorgen. Höchstens Wildschweine. Die will man nicht aufstören. Aber sonst? „Man schläft zwar flacher draußen und wacht oft auf. Aber erholsam ist es trotzdem.

Christo Foerster würde das als „ehrliches Erlebnis“ bezeichnen. Anders als die „Pseudoabenteuer“ Bungeespringen und Hochseilgarten. Mikroabenteuer sind zugleich ein Abschied von Superlativen. Ökologisch. Die kompostierbare Mülltüte immer im Gepäck. Foerster allerdings bespielt auch ein paar größere Formate. Seine Karriere als Mikroabenteurer begann mit der Strecke Hamburg-Berlin, auf dem Fahrrad, in einer Nacht. Auf dem Stand-up-Paddle ist er nach Helgoland gefahren. Und mit dem Tretboot durch den Nord-Ostsee-Kanal. Manchmal sucht er sich einfach einen komisch klingenden Ortsnamen aus. Pups zum Beispiel. Und zieht los, zu erkunden, was sich hinter dem Namen verbirgt. „Müssen wir nach Venedig?“, fragt er. „Oder auf den Kilimandscharo?“ Natürlich nicht. Was den Klimawandel angeht, sollten wir auch gar nicht hin.

Unter Foersters Zuhörern sind auch einige Frauen. Kerstin Dietz zum Beispiel, die schon ein paar Mal auf der eigenen Terrasse geschlafen und gemerkt hat: „Das gehört zu einem, das umschließt einen.“ Jedenfalls bis um vier Uhr der Autolärm anhebt und die Abenteurerin ins Haus jagt. Oder die Autorin Ramona Jakob, die seit drei Jahren ein eigenes Mikroabenteuerkonzept verfolgt. Jeden Monat will sie etwas Neues erleben. Mal hilft sie bei der örtlichen Tafel aus. Mal wagt sie einen Fallschirmsprung. „Das Leben hat so viel zu bieten“, sagt sie. „Andere Facetten und Aspekte kennenlernen: Das ist für mich ein Mikroabenteuer.“

Nicht nur die Natur ist eine der ganz großen Sehnsüchte der Gegenwart. Auch dieser neue, frische Blick auf das Vertraute. Der Entdeckergeist. Das Adrenalin, das einen lebendig macht. Manuel Rudel will all das. Und er will, ganz Großstädter, noch viel mehr: „Einen ruhigen Fleck finden.“ Draußensein, sagt er: Das sei „ein Flashback zum Ursprung“.
(Monika Goetsch)

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