Leben in Bayern

Johann Frank mit seinem Sohn Christoph. Der 35-Jährige ist auf Krankengymnastik angewiesen, um möglichst mobil zu bleiben. (Foto: Brenner)

19.02.2021

Verzweifelte Patienten

Schon vor der Corona-Krise war es oft schwer, einen Physiotherapeuten zu finden – in der Pandemie wachsen die Wartelisten noch weiter an

Für Familie Frank aus dem Landkreis Pfaffenhofen glich die Suche einer Odyssee: Sohn Christoph benötigt dringend Krankengymnastik – doch von 30 Praxen kam eine Absage. Sie arbeiten am Limit, weil ihnen angesichts des Fachkräftemangels Personal fehlt. Und weil seit Corona noch mehr Hilfesuchende kommen. Immerhin: Muskeldystrophie-Patient Christoph hat doch noch eine Therapeutin gefunden – dank einer glücklichen Fügung.

Ganze 30 Praxen hat Johann Frank in der Region angerufen, aber keine konnte ihm Krankengymnastik-Hausbesuche für seinen an Muskeldystrophie erkrankten Sohn Christoph anbieten. Der 73-Jährige aus Hettenshausen wusste schon nicht mehr weiter.

Die Krankheit, bei der Christoph Franks Muskeln immer schwächer werden und mit der Zeit immer weiter schwinden, wurde bei ihm im Alter von sechs Jahren diagnostiziert. Muskeldystrophie ist eine fortschreitende Krankheit, für die es keine Heilung gibt. Wohl aber Wege, ihren Verlauf zu verlangsamen. „Ich fühle mich besser nach der Krankengymnastik“, sagt der 35-Jährige. Die Übungen, mit denen der Therapeut die Beweglichkeit seiner Gliedmaßen fördert, täten ihm richtig gut. Der Physiotherapeut bewegt beispielsweise seine Arme, knetet die Finger, um Frank möglichst fit zu halten. „Nur ein ausgebildeter Physiotherapeut kann das machen. Denn wenn man es falsch macht, besteht die Gefahr, seinen Zustand zu verschlechtern“, erklärt sein Vater.

Bisher wurde Frank von einem Therapeuten in der Praxis Sander in Pfaffenhofen behandelt. Doch für den Mitarbeiter aus dem Schrobenhausener Raum war der Weg zur Arbeit irgendwann zu weit. Übernehmen konnte die Hausbesuche kein anderer Therapeut, „wir sind bis zum Anschlag voll“, erklärt man in der Praxis. Man bedaure das sehr, „denn das ist schlimm für solche Patienten“.

Schuld ist der Physiotherapeuten-Mangel. Dieser ist deutschlandweit nach wie vor „massiv“, so Silke Becker-Hagen vom Deutschen Verband für Physiotherapie (ZVK). Laut Bundesagentur für Arbeit sind offene Stellen in Bayern momentan 214 Tage vakant.

Bei der Physiotherapie Hermann Gürtner in Scheyern zum Beispiel muss man derzeit sechs Wochen auf einen Termin warten, sagt Inhaber und Physiotherapeut Hermann Gürtner. „Ich würde sofort jemanden einstellen.“ Wegen des Fachkräftemangels finde er aber niemanden, der sein Team unterstützen könnte. Rund 40 Stunden pro Woche machten er und seine Kollegen Hausbesuche im Umkreis.

Auch Gürtner kann den Franks nicht weiterhelfen. „Hettenshausen ist für uns leider zu weit weg“, sagt Gürtner. Die Praxis behandle beispielsweise einen Patienten in Paunzhausen, „da brauchen wir 20 Minuten hin und zurück, dazu kommen die Spritkosten“. Das lohne sich eigentlich nicht, denn gezahlt wird dieselbe Pauschale wie für den Patienten im selben Ort.

Die Therapeutin arbeitete sogar mit gebrochener Hand

Physiotherapeutin und Geschäftsführerin Friederike Rothner, die eine Praxis in Pfaffenhofen leitet, kennt das auch: „Mir hat ein Patient erzählt, seine Kasse habe ihm von der Taxifahrt abgeraten, er solle lieber einen Hausbesuch nehmen, das komme billiger.“

Zwar sei der Satz vor Kurzem sogar erhöht worden, so Gürtner. Doch er müsste um weitere 50 Prozent steigen, um genug Physiotherapeuten im Job halten zu können. Zumal man in der Branche auch heute noch spüre, dass bis vor rund zwei Jahren Schulgeld verlangt wurde.

Dazu komme ein „Riesenstress“ im Arbeitsalltag, so Geschäftsführerin Rothner. Denn für eine Einheit Krankengymnastik können laut ZVK bei den gesetzlichen Krankenkassen aktuell 21,11 Euro abgerechnet werden. „Die Controller bei den Krankenkassen sagen, wir kommen so ja auf einen Stundensatz von rund 80 Euro.“ In der Realität funktioniere das aber überhaupt nicht. Denn in dem Betrag sind laut ZVK auch Vor- und Nachbereitung sowie Dokumentation enthalten. Wer einen guten Job machen wolle, brauche aber 20 Minuten rein am Patienten, sagt Rothner, „sodass ich auf 60 Euro brutto komme“.

Bei ihren vier Hausbesuchspatienten sei alles noch aufwendiger: „Da mache ich oft soziale Arbeit; kommen Sie, trinken Sie einen Kaffee, sagen meine Senioren gern.“ Doch dazu habe sie natürlich keine Zeit. „Wir arbeiten hier am Limit.“ Sie habe sich das Handgelenk gebrochen, arbeite aber dennoch weiter, weil die Anfragen seit Beginn der Corona-Pandemie sogar noch mehr gestiegen seien als sonst. „Alle, die sonst in die Fitnessstudios gehen, kommen nun auch zu mir.“ Dazu kommen laut Rothner viele Patienten, die dank Homeoffice endlich die Zeit finden, ihre Gesundheitsprobleme anzugehen.

Wenig Geld, viel Stress: Viele geben den Beruf auf

Auch Rothner würde wie Gürtner gern einen weiteren Physiotherapeuten einstellen, „doch für die letzte Einstellung habe ich eineinhalb Jahre gesucht“. Viele Berufsanfänger wanderten wegen der mäßigen Bezahlung und der Belastung in andere Berufe ab, so Rothner.

Physiotherapeut Gürtner macht die Hausbesuche eigentlich besonders gern: „Das sind immer besonders dankbare Patienten, denn sie können ja nicht zu uns kommen“, sagt er. „Die Not ist oft groß.“

Christoph Frank sitzt mittlerweile im Rollstuhl und ist auf Intensivpflege angewiesen. Mit einer Trachealkanüle in der Luftröhre wird beispielsweise regelmäßig die Flüssigkeit abgesaugt, um ihn vor dem Ersticken zu bewahren. Ein Pfleger ist vor Ort und kann zur Not eingreifen. Auch Johann Frank und seine Frau Katharina haben viel gelernt: Wie man einen Katheter legt, die täglichen Handgriffe der Pflege und natürlich das Beantragen der Pflegestufen. Sie haben auch die Höhen und Tiefen erfahren, die mit der Krankheit kommen. Und machen das Beste daraus. „Für uns war immer klar, dass Christoph bei uns bleibt und nicht in ein Heim geht“, sagt der Vater. Im Familienalltag genießen sie oft die kleinen Dinge: „Nach dem Aufstehen hören wir gern zusammen Radio“, erzählt Christoph Frank. Sein Vater liest ihm aus der Zeitung vor.

Doch das sind nur die Dinge, die seinen Geist erhalten. Die Krankengymnastik hilft ihm, so mobil wie möglich zu bleiben. Deshalb ist die Familie auch so erleichtert, dass es nach der langen Suche doch noch mit einer Therapeutin geklappt hat. Die Pfaffenhofenerin Claudia Rohrmann hatte der Familie zwar bei ihrer ersten Anfrage noch eine Absage erteilt, dann aber tat sich überraschend doch noch eine Lücke im Terminplan ihrer Praxis auf. Rohrmann erklärte sich bereit, die Behandlung zu übernehmen, so Johann Frank. „Wir haben da richtig Glück gehabt.“
(Desirée Brenner)

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