Erst baute er Gleise, dann lies er sich zum Zugführer ausbilden. Um sein Studium zu finanzieren, arbeitet Yasar Aratemür weiterhin bei der Bahn. (Foto: LMU)
Als er aus der Türkei nach Augsburg zog, sprach Yasar Aratemür kein Wort Deutsch. Doch mit seinem unvergleichlichen Willen arbeitete sich der Familienvater hoch, absolvierte eine Ausbildung zum Gleisbauer, holte in Hamburg seinen Schulabschluss nach und begann ein Studium der Iranistik. Das Ziel über allem: Die Rettung seiner vom Aussterben bedrohten Muttersprache Zaza.
Yasar Aratemür gehört zu den Zaza. Das ist eine nordwestiranische Volksgruppe in Ostanatolien, Türkei. Mit eigener Sprache. Die türkische Sprache lernte der heute 35-Jährige erst nach der Einschulung in der Stadt Bingöl. Als Kind kümmerte sich seine Mutter allein um Aratemür, weil sein Vater zum Zeitpunk seiner Geburt 1978 bereits als Maurer in Deutschland arbeitete.
Heute lebt auch Aratemür in Deutschland. Noch vor Beendigung der Schule zog er 1994 zu seinem Vater und der inzwischen ebenfalls in Deutschland wohnenden Mutter. Und wieder musste er eine Sprache ganz neu lernen. Damals lebten nur wenige Zaza im Bundesgebiet, selbst heute wird ihre Zahl nur auf 150 000 geschätzt.
Es gibt kaum Dokumente, keine einheitliche Schrift
In den folgenden zwei Jahren lerne Aratemür Deutsch eher nebenbei. Er absolvierte einen Grundausbildungslehrgang beim Kolping-Bildungswerk in der Diözese Augsburg. „Dabei konnte ich neben den technischen Kenntnissen auch endlich Deutsch lernen“, erzählt er. 1996 begann der damals 18-Jährige dann eine Berufsausbildung als Gleisbaufacharbeiter, die er drei Jahre später erfolgreich abschloss. Aufgrund seiner schnellen Auffassungsgabe und guten Leistungen stellte ihn die Deutsche Bahn danach sofort ein. Aber Yasar Aratemür wollte mehr. „Am Anfang haben mich meine Vorgesetzten und die Verwandtschaft noch ausgelacht“, berichtet er. Das habe ihn aber erst recht angespornt: „Die werden schon sehen“, dachte er und arbeitete sich hoch. Zuerst als Schlosser bei einer Augsburger Firma für Industrieroboter und ab 2002 als Maschinenbediener bei einem Automobilzulieferer. Anschließend ließ sich Aratemür in Berlin zum Lokomotivführer und ab 2007 bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) zum Ausbilder weiterbilden. Nur ein Jahr später absolvierte er zudem ein Fernstudium zum „geprüften Meister für den Bahnverkehr“.
Doch selbst das war dem jungen Mann nicht genug. Während seiner Zeit als Lokomotivführer fing Yasar Aratemür an, die Leidenschaft für seine Muttersprache zu entdecken. Er wollte mehr über sie erfahren und holte auch deshalb an der Universität Hamburg seine Hochschulzugangsberechtigung nach. Anschließend begann er an der Alster und weit weg von seiner Familie Iranistik zu studieren. „Um mir mein Studium leisten zu können, musste ich aber weiter bei der Bahn als Lokomotivführer arbeiten“, erzählt er.
Und das macht er auch heute noch. Kein leichtes Unterfangen für den verheirateten Vater dreier Kinder. Yasar Aratemür sieht es dennoch positiv: „Früher hätte ich nie geglaubt, dass ich eines Tages überhaupt studieren würde.“ Um das häufige Pendeln zu beenden, beschloss er 2011, an die Uni München zu wechseln. Dort schrieb er sich in den Studiengang „Naher und Mittlerer Osten“ mit Schwerpunkt Iranistik sowie Turkologie ein. „Das war wichtig für die Erforschung von Zaza“, betont Aratemür. Je intensiver er sich allerdings mit seiner Muttersprache beschäftigte, desto deutlicher stellte er fest: Außer ein paar alten Texten existieren überhaupt keine Aufzeichnungen in dieser Sprache. Außerdem gibt es bis heute keine verbindliche und einheitliche Schrift. „Deswegen habe ich mir zum Ziel gesetzt, hier selbst etwas zu unternehmen, bevor die Sprache eines Tages ausstirbt“, erklärt er.
So fing Aratemür an, Lieder und Märchen aufzuschreiben, seine Verwandten zu interviewen und alles rund um die Sprache Zaza zu dokumentieren. Gleichzeitig suchte er im Internet nach Mitstreitern und trat dem Verein der Zaza-Sprache in Frankfurt bei, der unter anderem Zaza-Sprachkurse anbietet. Anschließend gründete er in Augsburg selbst einen Verein der Zaza-Sprache, brachte ein Bilderbuch für Kinder heraus und veröffentlichte eine Fibel, mit der man das Schreiben und Lesen von Zaza erlernen kann. Nicht zuletzt arbeitete Aratemür als Redakteur bei den Zaza-Zeitschriften Çime und Zazaki. „Die Hefte erscheinen aber unregelmäßig, weil wir alles selber bezahlen müssen“, erklärt er. Aus finanziellen Gründen mussten sie jetzt sogar bis auf Weiteres eingestellt werden.
Von der türkischen Regierung bekommt Aratemür keine Unterstützung. „Ich habe letztes Jahr einen Vortrag an einer türkischen Universität halten können“, berichtet er. Doch Sprachforschung und die Erforschung von Minderheitensprachen werde in seinem Heimatland nicht anerkannt und damit auch nicht gefördert – auch weil die Türkei immer noch sehr stark nationalistisch geprägt sei.
Jetzt will er eine deutsche Zaza-Zeitschrift rausbringen
Doch davon lässt sich der 35-Jährige nicht abhalten. Er möchte unbedingt weiterforschen. Also plant er nun, nach seinem Master eine wissenschaftliche Zaza-Zeitschrift auf Deutsch herauszugeben. Eine Arbeit für die es bislang keinerlei Grundlagenwerke gibt. Dafür aber werden ihm sicherlich nicht zuletzt die drei bis vier Millionen Zaza in der Türkei sehr dankbar sein. Und auch seine Verwandten, die Aratemür schon lange nicht mehr auslachen. (David Lohmann)
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