Wenn Kerstin Lauterbach in der Übergangsklasse der Würzburger Mönchberg-Schule ihren Märchenkoffer öffnet, ist die Spannung unter den Kindern riesig. „Erzählkunst macht Schule“ heißt das Förderprojekt, das die Kleinen mit deutscher Sprache und Kultur vertraut macht. Märchen und Fabeln machen stark, davon ist die Profi-Erzählerin überzeugt. Die kleine Maus hat vielleicht Nerven! Der Löwe soll sie laufen lassen, bibbert sie. Dafür will sie ihm einmal aus einer Notlage heraushelfen. Der Löwe glaubt, sich verhört zu haben: Die kleine Maus will ihm, dem riesigen Löwen, helfen? Er beginnt dröhnend zu lachen – und alle Kinder, die um Geschichtenerzählerin Kerstin Lauterbach sitzen, lachen mit. Doch es vergehen nur wenige Tage, und der Löwe erhält tatsächlich lebensrettende Hilfe von der Maus.
Seit zehn Jahren ist Kerstin Lauterbach eine „professionelle Geschichtenerzählerin“. Auf das Adjektiv „professionell“ legt sie großen Wert. Denn Menschen, die darin ausgebildet sind, Geschichten gut rüberzubringen, ihren Kern zu erschließen, ihre Botschaft wirksam werden zu lassen und die kreative Macht der Sprache zu wecken, müssen noch immer um Anerkennung kämpfen. Geschichtenerzählerinnen gelten nach wie vor als „Märchentanten“, bedauert das Mitglied der Gilde der Märchenerzähler der Europäischen Märchengesellschaft: „Und Geschichten zu erzählen, wird als ‚Kinderkram’ abgetan.“
Lauterbach, die in Theatern und in Bibliotheken, in Museen und Cafés, in der Würzburger Residenz und in Senioreneinrichtungen erzählt, belehrt Skeptiker schnell eines Besseren. Wie sie erzählt, hat nichts mit „Märchentante“ zu tun. Sie lebt in den Geschichten und ist sich der vielfältigen Botschaften, die es zu transportieren gilt, stets bewusst.
Bereits während ihres Sozialpädagogikstudiums beschäftigte sie sich mit Märchen. Das deutsche

Volksmärchen und seine Anwendbarkeit in der sozialpädagogischen Arbeit; mit einem Praxisbeispiel zu Frau Holle aus der Sammlung der Brüder Grimm, hieß ihre Diplomarbeit. An der Berliner Universität der Künste ließ sie sich von September 2011 bis Februar 2013 zur Märchenerzählerin ausbilden. Etliche weitere Erzählkurse folgten.
Die Idee, das Sprachverständnis von Kindern über professionell erzählte Geschichten zu fördern, stammt aus Berlin. Dort gründete Kristin Wardetzky, mit dem Europäischen Märchenpreis ausgezeichnete Professorin für Theaterpädagogik, 2007 den Verein „Erzählkunst“. Im Langzeitprojekt „ErzähltZeit“ konnte eindrucksvoll belegt werden, wie sich die Zuhörfähigkeit von Kindern und ihr Gespür für eine poetische Sprache durch das Erzählen entwickeln.
Hoch konzentriert lauschen die Kinder der Geschichte
Seit Herbst 2015 macht sich Lauterbach an jedem Freitag auf zur Würzburger Mönchberg-Schule, um zu erzählen. „Erzählkunst macht Schule“ nennt sich das 2012 gegründete Projekt. „Erzählen macht Kinder stark“, ist Lauterbach überzeugt. Gerade Märchen haben eine große Bedeutung, weil sie oft in ausweglos erscheinende Situationen hineinführen. Der Löwe aus dem Märchen, das sie an diesem Tag den Kindern erzählt, gerät in eine Falle. Nur mithilfe der von ihm zuvor verachteten Maus kommt er wieder heraus. Und findet in ihr am Ende einen Freund fürs Leben.
Um Lauterbach herum sitzen Erst- und Zweitklässler aus einer Übergangsklasse. Viele haben nur geringe Deutschkenntnisse. Die Kleinen lauschen hoch konzentriert. Immer wieder werden sie von Lauterbach aufgefordert, etwas mit- oder nachzumachen oder rhythmisch nachzusprechen. Das machen sie mit großem Vergnügen.
Lauterbach erzählt vor allem unbekannte Volksmärchen und Fabeln aus aller Welt. Aschenputtel oder Rumpelstilzchen: „Das sehen die Kinder oft im Fernsehen.“ Die Geschichte vom Löwen und der Maus hingegen kennt keiner.
Immer, bevor es eine neue Geschichte gibt, lässt Lauterbach die letzte Märchenstunde Revue passieren. Heute ruft sie ab, was den Kindern vom nordischen Volksmärchen Die Waldfrau, das sie vergangene Woche erzählt hatte, noch in Erinnerung geblieben ist. Kein Kind wusste bis dahin, dass das „Fjell“ eine typische noKwegische Landschaft ist. Doch gerade auch darum geht es in dem Projekt: Kinder sollen spielerisch neue Kulturen kennenlernen. Von der „Waldfrau“ ist allen noch eine Menge in Erinnerung. Seit der letzten Stunde hatten die Kleinen Bilder zu jener Szene zu malen. Lauterbach nimmt jedes einzelne Bild zur Hand, lobt und kommentiert es. Ihr geht es darum, Vorstellungskraft und Emotionen von Kindern anzusprechen. Irgendwann, meint sie beim Betrachten eines der Bilder, bekommt der Waldarbeiter doch sicher Hunger. Wie gut wäre nun eine warme Suppe! „Sagt, wollen wir ein Feuer machen?“ Gestenreich tragen die Kinder in ihrer Fantasie Steine und Holz zusammen, sie schnippeln Karotten und Kartoffeln in den Suppenkessel und hören, wie es brodelt. Hmmm, gut riecht es plötzlich im Klassenzimmer! Dann darf jeder reihum von der imaginären Suppe kosten. Oh, die ist aber noch ganz schön heiß! Darum wird gemeinsam gepustet, bis sich die Speise abgekühlt hat.
Nun erst geht es zur neuen Geschichte. Diesmal versteckt sich die Hauptfigur in Lauterbachs gelbem Märchenkoffer. Mit dem geht sie von Kind zu Kind. Jeder darf reingucken – aber nichts verraten! Es wird gekichert, „Oh!“ gesagt und gelächelt. Die Neugier des Kindes am Ende des Stuhlkreises steigt. Endlich darf auch es gucken: Wow, da liegt ein richtiger Löwe drin! Und zwar nicht irgendein Löwe, verkündet Lauterbach: „Sondern der stärkste Löwe von der ganzen Welt!“.
Der Freistaat fördert das Projekt aus dem Kulturfonds
Das Sprachförderprojekt „Erzählkunst macht Schule“ bringt Kinder über das lebendige, theaterpädagogisch angereicherte Erzählen mit der deutschen Sprache und Kultur in Kontakt. Vermittelt werden auch soziale Kompetenzen. Da kann einer noch so stark sein – irgendwann, lehrt die Fabel vom Löwen und der Maus, kommt er in eine Situation, in der er von anderen, die viel schwächer sind als er, Unterstützung benötigt.
Vier Schulen und drei Kitas aus Würzburg und Umgebung erhalten derzeit Besuch von Lauterbach und zwei weiteren Profis für Märchen, Mythen, Fabeln und Geschichten. Unterstützt wird das Projekt von der Kulturstiftung des Bezirks Unterfranken und der Märchenstiftung Walter Kahn. 2016 und 2017 gab es Förderungen in Höhe von 5300 beziehungsweise 8600 Euro aus dem Bayerischen Kulturfonds.
Um die Märchenstunden zu finanzieren, muss aber auch die Schule Geld bereitstellen: aus eigenem Budget, Elternspenden oder mithilfe des Fördervereins. Manchmal können auch lokale Banken als Unterstützer gewonnen werden. Die Grundschule in Zell, in der das Projekt im Februar startete, ermöglichte die Realisierung durch Crowdfunding. Insgesamt aber ist die Finanzierung Lauterbach zufolge leider eine hohe Hürde.
Die Lehrkräfte der Mönchberg-Schule bestätigen, wie nachhaltig das Projekt wirkt. So kam neulich im Unterricht in der Flüchtlingsklasse für die Drittklässler das seltene Wort „Klee“ vor. Wer das wohl kennt? Da schnellten etliche Finger nach oben. Die Lehrerin wunderte sich: „So viele von euch? Wie kommt das denn?“ Die Antwort: Na, durch die Erzählstunde im vergangenen Jahr, wo es in einem Märchen um Klee ging! (
Pat Christ)
Foto (Christ): In der Geschichte geht es um einen Löwen: Jedes Kind bekommt ihn in die Hand.
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