Nach Tagen voller Regen und Kälte scheint – endlich – wieder die Sonne. Viele junge Menschen sitzen an diesem warmen Dienstagabend in München an der Isar oder in Straßencafés. Hannah Jellissen hat sich für eine andere Abendgestaltung entschieden. Die Schülerin sitzt mit einem Laptop auf dem Schoß in einem stickigen Raum am Stiglmaierplatz. Sie will sich unbedingt umfassend informieren, bevor sie zum ersten Mal ihre Stimme abgibt. Sie ist gerade erst 16 Jahre alt geworden – und darf damit bei der Europawahl am Sonntag wählen. Und sie ist bei Weitem nicht die einzige Person, die an diesem Abend ins Münchner Haus der Schüler*innen gekommen ist, um sich vor der Stimmabgabe eine Meinung zu bilden. Der Veranstaltungsraum ist voll.
Rund 100 Arme schnellen in die Höhe, als das Moderationsteam fragt, wer denn zum ersten Mal wählen dürfe. Und fast alle bekunden zudem, den Stimmzettel noch nicht abgegeben zu haben. Sie wollten diese Veranstaltung abwarten. Ein ganz schön hoher Erwartungsdruck, der da auf dem vom Gastgeberverein, dem Bayerischen Jugendring (BJR), der Stadtschüler*innenvertretung und der Organisation Neuland & Gestalten veranstalteten Abend lastet. Das Konzept: Zwei Schauspielerinnen lesen Auszüge aus dem Europawahlprogramm einiger Parteien, eine Expertin und ein Experte ordnen dann ein. Und eine Moderatorin und ein Moderator verwalten die Fragen aus dem Publikum, von denen es in den kommenden zwei Stunden einige geben wird.
Volt-Programm im theatralischen Sprachduktus
Möglichst neutral, aber mit theatralem Sprachduktus tragen die Schauspielerinnen Clara Fenchel und Rabea Egg die Positionen von insgesamt acht Parteien zu drei Themengebieten vor. Es geht um Migration, Klimaschutz/Energie und Bildung. „Wir brauchen eine bessere Überwachung der EU-Außengrenzen und – wo immer es nötig ist – auch baulichen Grenzschutz“, liest Egg beispielsweise aus dem Unionsprogramm zur Migration vor, während sie Volt die „fragwürdigen Abkommen der EU-Mitgliedstaaten mit autokratischen Regimen“ verurteilen lässt. Klare Unterschiede, von denen noch einige vorkommen werden. Die Erstwähler*innen hören aufmerksam zu, viele machen sich Notizen.
Experte Ralf Knobloch, politischer Referent von der Europäischen Akademie Bayern, will die Gemeinsamkeiten in den Programmen betonen: Alle Parteien unterscheiden zwischen Asylbewerber*innen auf der einen und Fachkräfteeinwanderung auf der anderen Seite – was in der Öffentlichkeit oft zusammengeworfen werde. „Wir überaltern ganz stark“, sagt er. Wenn man nicht wolle, dass in Altenheimen irgendwann nur noch Roboter arbeiten, dann brauche man Zuwanderung.
Es gibt auch viel Grundsätzliches, das Knobloch und die andere Expertin, Politikwissenschaftlerin Florence Ertel von der Universität Passau, vielen im Raum erklären müssen. Was ist der EU-Migrationspakt? Was ist Emissionshandel? Welche Macht hat das Europaparlament? Organisieren sich die Abgeordneten wie im Bundestag und in den Länderparlamenten in Fraktionen und welche Institutionen der Europäischen Union gibt es denn überhaupt?
Unverständnis über Genderablehnung
Das junge Moderationsteam, Hannah Mader und Dominik Sell, räumt ein, selbst nicht bei jedem Begriff und nicht über jedes Detail des EU-Organigramms Bescheid zu wissen. Die Fachleute beantworten gerne jede Frage. Ertel rät den Schüler*innen auch, nicht nur das Wahlprogramm zu studieren, sondern möglichst auch mit den Politiker*innen zu sprechen. „Je mehr man nachfragt, umso besser“, sagt sie. So lasse sich auch so manche Phrase im Programm aushebeln.
Das Publikum ist dankbar für die Tipps und bleibt bis zum Schluss aufmerksam. Nur kurz wird es lauter, als eine der beiden Schauspielerinnen aus dem Programm der AfD zum Thema Gendern und Geschlechtsidentitäten vorträgt. Die ablehnende Haltung der Partei zu diesen Themen stößt, gelinde gesagt, bei den Zuhörenden auf Unverständnis. Ganz klar: In diesem Raum würde ein anderes Umfrageergebnis herauskommen als bei einer im April vorgestellten repräsentativen Studie, der zufolge ein sehr großer Prozentsatz an Jugendlichen AfD wählen würde.
Auch Gerrit Gehring hält nichts von den Vorstellungen der AfD. Für den 17-Jährigen ist die EU „eine wunderbare Solidargemeinschaft. Sie funktioniert nicht immer ganz toll, mehrheitlich haut es aber hin.“ Er würde sich wünschen, dass die EU nur besser kommuniziert, wofür sie eigentlich zuständig ist. Ein weiterer Wunsch wäre eine EU-weite Zusammenarbeit beim Ausbau der Transportmittel. Da ließen sich aus seiner Sicht sehr viele Emissionen einsparen. Die Veranstaltung hat ihm seine Wahlentscheidung leichter gemacht. „Ich schreibe gerade Abitur und hatte daher keine Zeit, alle Wahlprogramme durchzuarbeiten“, erklärt er. Am Sonntag kann er nun ruhigen Gewissens sein Kreuz im Wahllokal machen.
Auch Hannah Jellissen findet die Informationen des Abends hilfreich. Sie möchte bis zu einer endgültigen Entscheidung aber noch etwas recherchieren. Für sie steht Europa für „Gemeinsamkeit, Verbundenheit und Austausch“. Klimaschutz sei ihr auch sehr wichtig. „Und dass die Demokratie verteidigt wird.“
Insgesamt 700 junge Menschen haben sich die kommentierte Lesung der Wahlprogramme an diesem Tag angehört. Am Vormittag waren nämlich einige Schulklassen im Haus der Schüler*innen, weitere Klassen aus dem Münchner Raum waren per Livestream zugeschaltet.
„Das hat uns sehr gefreut“, sagt Silke Zimmermann, Geschäftsführerin der Organisation Neuland & Gestalten, die sich der Demokratiebildung verschrieben hat. „Wir waren sehr positiv überrascht, denn Wahlprogramme glänzen ja nicht gerade durch ihre Sexyness.“ Aber für sie zeigt das, dass der Weg der politischen Vermittlung durch das Denken aus Sicht der Zielgruppe gelingen kann. Da man die jungen Menschen eingebunden habe, habe man auch die richtige Ansprache finden können – sowohl bei der Einladung als auch bei der Veranstaltung selbst. Politikverdruss hat Zimmermann zumindest nicht bei den Anwesenden ausmachen können. „Weder die Jugend ist komplett verloren, noch die Demokratie.“
U18-Wahl ist diesmal überflüssig
Sonst hat der Bayerische Jugendring im Vorfeld der Wahlen immer wieder U18-Wahlen organisiert. Denn während in anderen Bundesländern wie Baden-Württemberg das Wählen ab 16 bei Landtags- und Kommunalwahlen erlaubt ist, gilt im Freistaat nach wie vor, dass man volljährig sein muss, um seine Stimme abgeben zu können. Die Europawahl ist da zum ersten Mal eine Ausnahme. Insofern war diesmal eine Ersatzwahl überflüssig.
Theresa Leppert vom BJR hofft, dass die Europawahl den Anstoß im Freistaat gibt, auch bei Landtags- und Kommunalwahlen das Wahlalter herabzusetzen. „Dieser Abend zeigt ja, dass junge Menschen sich informieren“, sagt sie. „Die waren total engagiert. Viele haben fleißig mitgeschrieben.“ Und auch nach dem offiziellen Ende stehen noch viele von ihnen lange herum und diskutieren miteinander – bei Crêpes und Limonade. (Thorsten Stark)
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