Leben in Bayern

Eine Zugbegleiterin am Münchner Hauptbahnhof. Ein Job, der immer gefährlicher wird – vor allem im Freistaat. (Foto: dapd)

23.11.2012

Vorsicht bei der Abfahrt!

Die Gewalt gegen Bahnmitarbeiter nimmt seit Jahren zu – die meisten Übergriffe gibt es in Bayern

Fast drei Jahre ist es nun her, dass Zugbegleiterin Ulrike Schmidt*  den Glauben an die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes verloren hat. An jenen Sonntagmorgen kann sich die Schwäbin noch genau erinnern. Sie hatte Dienst auf einer Verbindung in Südbayern. „Es war ein sonniger Tag und ich war bester Laune“, sagt die Mitarbeiterin der Deutschen Bahn (DB). Schmidt hatte gerade einen Schwarzfahrer kontrolliert und wollte dessen Personalien aufnehmen. „Doch als der Zug am nächsten Bahnhof einfuhr, riss mir der Mann seinen Ausweis wieder aus der Hand und lief nach draußen.“
Als die junge Frau dann kurz darauf ebenfalls auf den Bahnsteig ging, um den Zug abzufertigen, pöbelte sie der Unbekannte massiv an. Plötzlich schubste der kräftige Mann Schmidt in Richtung Zug. Dann gab er ihr eine heftige Ohrfeige und floh. In den Folgemonaten litt die Zugbegleiterin unter einem massiven Tinnitus.

Negativer Rekord: Linie 2 der Münchner S-Bahn


Die Polizei fasste den Angreifer zwar später. Doch für Schmidt ist die Sache damit noch nicht erledigt. Die Fahrgäste dürften nicht länger wegsehen, wenn Bahnmitarbeiter attackiert würden. „Wir Zugbegleiterinnen sind kein Freiwild“, sagt sie mit resoluter Stimme. Da müsse sich etwas ändern. Auch müsse die Deutsche Bahn auf sensiblen Strecken noch mehr Personal einstellen.
So wie Ulrike Schmidt ergeht es offenbar immer mehr Angestellten des größten deutschen Verkehrsunternehmens. „Die Gewalt gegen Bahnmitarbeiter hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen“, sagt Stefan Leuschner, Fachbereichsleiter Personenverkehr bei der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Die EVG hat gerade erst ihre Mitglieder zu dem Thema befragt. Von den bundesweit mehr als 600 Teilnehmern gaben beinahe neun von zehn auf ihren Fragebögen an, sie seien im Dienst schon einmal in eine „heikle Situation“ geraten. Die meisten von ihnen wurden von Fahrgästen nach eigenen Angaben genötigt oder beleidigt: Jeder Vierte sagte, er sei im Dienst auch Opfer physischer Gewalt geworden.
Auch laut offizieller DB-Statistik ist ein Job bei der Bahn nicht immer ungefährlich. Von den im vergangenen Jahr registrierten 1679 Körperverletzungen in Zügen der DB und auf Bahnhöfen richteten sich 748 gegen Angestellte der Bahn. Das waren zwölf Prozent mehr als im Jahr 2010. Und der Trend hält an: Einem von der Deutschen Bahn  als „vertraulich“ eingestuften Sicherheitsbericht zufolge stieg die Zahl der gewaltsamen Übergriffe gegen DB-Mitarbeiter im ersten Halbjahr 2012 im Vergleich zu den ersten sechs Monaten des Vorjahres um 5,4 Prozent auf 371 an. Im Bereich Personenverkehr betrug der Zuwachs der gemeldeten Attacken auf DB-Mitarbeiter gegenüber dem Vorjahreszeitraum sogar um 27,2 Prozent. „Die häufigsten Delikte stehen nach wie vor im Zusammenhang mit Fahrkartenkontrollen“, heißt es in dem internen Bericht der Konzernsicherheit.
Ein DB-Sprecher bestätigt die Zunahme der angezeigten Übergriffe. „Die Bahn ist ein offenes System. Damit werden auf Bahnsteigen und in Zügen auch all jene Konflikte ausgetragen, die sonst auf den Plätzen und Straßen der Städte wiederzufinden sind“, sagt er. Ohnehin passiere bei der Bahn nach wie vor „viel weniger als im sonstigen öffentlichen Raum.“
Tatsächlich ist angesichts von täglich 7,5 Millionen Reisenden die Gefahr, als Fahrgast Opfer eines Übergriffs zu werden, nach wie vor äußerst gering. Anders sieht es freilich für die Bahnmitarbeiter aus. Vier von zehn seitens der DB registrierten Übergriffe richteten sich in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gegen das Personal des Staatskonzerns.
Zwar sind, auf die Einwohnerzahl gerechnet, Berlin und Hamburg die Haupt-Brennpunkte der Gewalt in Zügen. Die meisten Angriffe und Pöbeleien gibt es allerdings in Bayern. Allein im zweiten Quartal 2012 wurden laut vertraulichem DB-Sicherheitsbericht 64 „personenbezogene Delikte gegen DB-Mitarbeiter“ im Freistaat registriert – fünf mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Zum Vergleich: Im bevölkerungsstärkeren Nordrhein-Westfalen zählte der Konzern von April bis Juni dieses Jahres gerade einmal 24 solcher Übergriffe gegen Bahnangestellte. Zu den personenbezogenen Delikten zählt die Bahn allerdings nicht nur Körperverletzungen, sondern auch andere Straftaten wie Beleidigungen.
Ursache für die im Vergleich zu anderen Regionen besonders hohe Zahl an gemeldeten Übergriffen auf Bahnmitarbeiter im Freistaat ist die im südlichsten Bundesland besonders große Zahl an Streckenkilometern. Auf welchen Verbindungen sich die meisten Attacken gegen Bahnmitarbeiter ereigneten, geht aus der Statistik nicht hervor. Lediglich Strecken, auf denen die allgemeine Kriminalitätsbelastung verhältnismäßig hoch ist, werden aufgelistet. Dem internen DB-Bericht zufolge wurden zwischen April und Juni dieses Jahres auf keiner deutschen Bahnverbindung so viele Straftaten gemeldet wie auf der Linie 2 der Münchner S-Bahn. Die Strecke von Petershausen landete bereits im zweiten Quartal 2011 auf Platz eins.
Von der zunehmenden Gewalt gegen Bahnmitarbeiter sind auch Konkurrenten der DB im Freistaat betroffen: Im Oktober schubste ein junger Mann einen 47-jährigen Schaffner der Oberlandbahn auf einem Münchner Bahnhof aufs Gleisbett. Das Opfer zog sich mehrere schwere Frakturen am Bein zu.
Vor allem Schaffner und Securities werden häufig zur Zielscheibe. 45 Prozent der von im Jahr 2011 deutschlandweit registrierten Übergriffe auf Bahnmitarbeiter richteten sich laut DB-Statistik gegen Zugbegleiter. In rund einem Drittel der Fälle waren Sicherheitskräfte oder Kontrolleure betroffen. In vier Prozent aller Fälle waren die Opfer Lokführer. Im April dieses Jahres attackierte ein Mann am S-Bahnhof Berlin-Wannsee einen Lokführer so schwer, dass dieser stationär im Krankenhaus behandelt werden musste.


Nach der Attacke: „Die Angst fährt immer mit“


Oft kommen die Attacken auf die Bahnmitarbeiter ohne jede Vorwarnung: So auch im Fall von Marion Müller*. Die 47-jährige Zugbegleiterin wurde im vergangenen Jahr in einer saarländischen Regionalbahn von einem Unbekannten attackiert. „Der Mann hat mich quer durch das Abteil geprügelt“, erinnert sich Müller. Faustschlag auf Faustschlag sei auf sie eingeprasselt. In dem halbvollen Waggon habe ihr keiner geholfen, so die Zugbegleiterin. Viele hätten aus dem Fenster gesehen. Erst als der offensichtlich betrunkene Täter einen Moment abgelenkt war, sei sie aus ihrer Starre erwacht: „Ich dachte an meine Kinder und wie ich hier noch lebend rauskomme.“ Schon fast ein Jahr lang war Müller in einem Kickbox-Kurs, sie schlug zurück und traf den Mann an der Kehle. Er fiel zu Boden, dann griffen zwei Fahrgäste ein und hielten ihn fest. Doch während Müller in Richtung Lokführerkabine lief, um Hilfe zu rufen, flüchtete der Angreifer am nächsten Bahnhof aus dem Zug.
Drei ausgekugelte Finger, Prellungen und Blutergüsse – die körperlichen Verletzungen heilten rasch, die seelischen nicht. „Seither fährt bei mir öfter die Angst mit“, sagt Müller. Ihre Vorgesetzten bei der Bahn hätten allerdings „vorbildlich reagiert“: Abendschichten habe sie für längere Zeit nicht mehr übernehmen müssen.
In der DB-Zentrale nimmt man die zunehmenden Attacken gegen das eigene Personal sehr ernst. Bei rund 5700 Bahnhöfen, 27 000 Zugfahrten täglich und 34 000 Kilometer Streckennetz bundesweit sei ein lückenloser Schutz jedoch leider unmöglich, erläutert ein DB-Sprecher. Die Bahn versucht, der steigenden Gewalt gegen ihre Angestellten mit Deeskalationskursen für die Mitarbeiter und zusätzlichem Sicherheitspersonal entgegenzuwirken. Allein im vergangenen Jahr hat das Unternehmen die Zahl der DB-eigenen Sicherheitskräfte nach eigenen Angaben von 3200 auf 3700 aufgestockt. „Dort, wo es vermehrt zu Übergriffen auf Personal und Kunden kommt, werden auch mehr Sicherheitskräfte eingesetzt“, betont ein Sprecher. Der vermehrte Einsatz von Securities sei aber auch eine Ursache für die zunehmende Zahl an gemeldeten Übergriffen auf Bahnpersonal. „Durch die stärkere Präsenz unserer Mitarbeiter an den Konfliktherden erhöht sich leider auch das Potenzial für Übergriffe“, so der Sprecher. Er verweist zudem darauf, dass Massenveranstaltungen wie Fußballspiele und Volksfeste die Gewalt-Statistik in den Zügen und Bahnhöfen verzerren würden.
EVG-Gewerkschafter Leuschner bestätigt, dass die DB viel unternehme, um die Sicherheit ihrer Mitarbeiter zu verbessern. Er fordert jedoch für sensible Strecken eine weitere Aufstockung des Sicherheitspersonals sowie zusätzliche Zugbegleiter. Und auch eine Sprecherin der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) sagt: „Es ist noch einiges zu tun.“ Ulrike Schmidt selbst will darauf allerdings nicht warten. Sie will sich nach einem anderen Beruf umschauen. (Tobias Lill)

*Namen von der Redaktion geändert

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