Leben in Bayern

Laut den Organisatoren kamen rund 200 Menschen zur Gelbwesten-Demo in München. (Foto: Lino Mirgeler/dpa)

21.12.2018

Weiß-blaue Gelbwesten

Vorbild Frankreich: Der deutschlandweit erste Gelbwesten-Protest fand in München statt – der Beginn einer sozialen Revolte?

Die erste Gelbwesten-Demonstration in Deutschland fand zwar noch recht wenig Anklang. Nach München sind aber weitere Proteste in anderen Städten bereits geplant. Wie groß ist das Potenzial des von der Sahra-Wagenknecht-Bewegung „Aufstehen“ organisierten Protests hierzulande? Die Staatszeitung hat sich bei Demonstranten, Aktivisten und Experten umgehört.

Die alte Frau friert offensichtlich. Doch ihr Zorn über die aus ihrer Sicht unfairen Verhältnisse ist größer als der Wunsch nach Wärme. „Ständig wird uns erzählt, dass es uns allen in Deutschland so gut geht. Aber warum merken viele davon nichts?“, fragt die 67-jährige Augsburgerin. Jede Tasse Kaffee mit Freundinnen müsse sie sich „mit ihrer Mini-Rente von spürbar weniger als 1000 Euro absparen“. Schuld seien auch die hohen Mieten. Es müsse sich etwas ändern, fordert die Frau. „Die Unzufriedenen sollen endlich auf die Straße gehen“, sagt sie.

Die erste größere Solidaritätskundgebung für die französischen Gelbwesten fand am Wochenende in München statt. Die französischen Gelbwesten hätten gezeigt, dass man etwas erreichen könne, erklärt die Augsburger Demonstrantin. Deshalb sei sie dem Aufruf der Aktivisten der von Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht initiierten linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“ gefolgt. Ist extra nach München gekommen, vor das Nationaltheater – natürlich in gelber Weste.

„Auch die französischen Gelbwesten fingen klein an“

Ein Bündnis von „Aufstehen München“ und der französischen Bewegung „La France insoumise – Munich“ hat zu dieser „ersten Gelbwesten-Kundgebung in Deutschland“ aufgerufen. Die Veranstalter zählten rund 200 Teilnehmer, die Polizei sprach am Ende von 100 Demonstranten. „Vive la revolution“ hatten mehrere von ihnen auf ihre Westen geschrieben. Manche schwenkten rot-weiße „Aufstehen“-Fahnen, auch eine Deutschland- und zwei Frankreich-Flaggen sind zu sehen.

Viele von denen, die gekommen sind, stehen nicht unbedingt auf der Sonnenseite des Lebens. Da ist etwa Bastian Pflüger: Mit 32 Jahren ist er krankheitsbedingt bereits Frührentner. „Wären Kranke eine Bank, hätte man sie schon längst gerettet – Aufstehen“, heißt es auf seinem Transparent. Es gebe große Missstände, sagt der Mann, der statt einer Warnweste eine gelbe Jacke trägt. Auch eine 62-jährige arbeitslose Münchnerin klagt: „Die Reichen werden immer reicher.“ Viele einfache Menschen an der Isar könnten sich ihre Stadt dagegen längst nicht mehr leisten. Auch einige Studenten sind zur Kundgebung gekommen. „Es muss dringend mehr Geld für Bildung ausgegeben werden“, sagt die 25-jährige Franzie.

Doch auch viele Münchner aus der Mittelschicht dürften mit einem großen Teil der Forderungen der bayerischen Gelbwesten sympathisieren: Beseitigung der Obdachlosigkeit, Deckelung der Mieten, Schluss mit Mietpreisspekulationen, höhere Steuern für Konzerne und eine Mindestrente von 1200 Euro sind die Protestziele, die Organisationen anführen.

Vor drei Monaten gingen rund10 000 Münchner lautstark gegen Luxussanierungen und steigende Mieten auf die Straße. Davon können die Organisatoren der Gelbwesten-Kundgebung allerdings nur träumen. „Auch die französischen Gelbwesten fingen klein an“, erklärt Christian Lange, einer der Verantwortlichen von „Aufstehen München“, den mauen Zulauf. Wagenknechts Bewegung plant seinen Angaben zufolge in den kommenden Wochen weitere Gelbwesten-Kundgebungen in Großstädten wie Hamburg, Leipzig, Stuttgart und Düsseldorf. „Wir haben das Signal gesetzt“, gibt sich Lange überzeugt.

Der politisch eher links stehende Mainzer Politologe Gerd Mielke glaubt allerdings nicht, dass es „Aufstehen“ hierzulande derzeit gelingen kann, eine soziale Revolte wie im Nachbarland zu entfachen. „Die Deutschen sind nur in sehr großen Notlagen zu so intensiven und andauernden Protesten wie nun in Frankreich bereit“, sagt er. Dies habe auch historische Gründe. Zwischen Berchtesgaden und Flensburg seien solche zivilen Revolten „fast immer in die Hose gegangen“. Zudem seien die Medien in Deutschland gegenüber derlei sozialen Bewegungen in der Tendenz weniger positiv eingestellt als im westlichen Nachbarland. Tatsächlich war über die Münchner Demo im Vorfeld so gut wie nicht berichtet worden.

Ein gewisses Potenzial für solche Protestbewegungen sei jedoch vorhanden, glaubt Mielke. Ob dazu jedoch eine von Wagenknecht initiierte Bewegung geeignet sei, bezweifelt der Professor. Tatsächlich tragen Vertreter von „Aufstehen“ gerne ihre auf dem Papier hohe Unterstützerzahl vor sich her. Rund 167 000 Unterstützer haben sich seit der Gründung der Bewegung im September per Mausklick registriert. Auch wurden zahlreiche Ortsgruppen ins Leben gerufen. Zu öffentlichen Veranstaltungen kamen bislang in der Regel allerdings nicht mehr als einige Hundert Menschen. „Die Leute melden sich an, aber engagieren tun sich nur wenige“, sagt ein hochrangiger Linken-Politiker. Auch nach drei Monaten hat Aufstehen nicht die Schlagkraft, die Wagenknecht gerne hätte – das zeigt sich nun auch wieder in München.

Langfristig seien die Erfolgschancen für die Bewegung gering, konstatiert der Berliner Soziologe Dieter Rucht. Der Zustrom von Anhängern werde stagnieren. Er nennt eine Reihe von Problemen wie die Gründung von oben und die Fokussierung auf Wagenknecht sowie den fehlenden Rückhalt unter Linken. Der Politologe Mielke ergänzt, dass die französische Gelbwesten-Bewegung die Unterstützung vieler Gewerkschafter habe. In Deutschland seien sie dagegen gegenüber der Politik eher kooperativ statt konfrontativ eingestellt.

Fatal: Rechte versuchen, die Bewegung zu unterwandern

Anders als in Frankreich oder bei den bayerischen Protesten im Sommer waren bei der Gelbwesten-Demo in München am Samstag tatsächlich kaum Gewerkschafter da. Möglich, dass dies auch an einem im Internet verbreiteten und in München verteilten Einladungsflyer der Gelbwesten lag. Darin hieß es: Die Grenze des Zumutbaren sei überschritten. „Gleichzeitig schachern die politischen und wirtschaftlichen Eliten um lukrative Jobs und Pöstchen.“ Und weiter: „Viele Gewerkschaftsbosse haben sich bestechen lassen und verraten die Basis.“ Ein führender Linken-Politiker sagt: „Die soziale Bewegung ist richtig – aber so populistische Kritik, dann auch noch an unseren Bündnispartnern, ist einfach nur dumm.“

Viele Linken-Mitglieder waren der Münchner Demo ferngeblieben. Bayerns Parteichef Ates Gürpinar kritisierte: Um Forderungen nach einer besseren Miet- oder Pflegepolitik „den notwendigen Druck zu verleihen, wäre ein breites Spektrum fundamental“.

Und noch ein weiteres Problem zeigte sich in München. So wie mitunter in Frankreich hat sich auch dort zumindest eine Handvoll Rechtsradikaler unter das Publikum gemischt. Einer etwa bekannte sich auf seiner Mütze zum „Dritten Weg“, einem Sammelbecken Rechtsextremer. „Da sind auch mehrere stadtbekannte Nazis dabei gewesen“, sagt die Fotojournalistin Anne Wild, die seit Jahren die rechtsextreme Szene beobachtet.

Die Organisatoren des Protests hatten sich von Beginn an von möglichen Bestrebungen Rechtsextremer, die Veranstaltung zu unterwandern, scharf distanziert. Drei Demonstranten, die laut Organisationsteam „dem rechten Spektrum zuzuordnen waren“, wurden später gebeten, die Kundgebung zu verlassen, und von Polizisten zum Rand des Platzes geführt.

Als einer der zahlreichen Redner auf der Bühne jedoch den Begriff „Lügenpresse“ benutzte, konnte er ungestört weitersprechen – bekam später sogar lauten Applaus. Da hilft es auch nicht viel, wenn Mitorganisator Lange auf Nachfrage betont: „Eine solche Wortwahl lehnen wir strikt ab.“
(Tobias Lill)

Fotos v. o. (Lill):
Bastian Pflüger ist Frührentner – und fühlt sich von der Politik im Stich gelassen.  
„Aufstehen“-Mitorganisator Christian Lange ist überzeugt: „Wir haben jetzt ein Signal gesetzt.“

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