Leben in Bayern

Eine Frau wird von einem Mann in der S-Bahn belästigt. Wie man da richtig reagiert, kann man lernen. (Foto: dpa/Andreas Gebert)

04.10.2019

Zivilcourage im Schnellkurs

In brenzligen Situationen anderen helfen, ohne selbst zum Opfer zu werden – in Seminaren der bayerischen Polizei kann man das lernen

Wie reagiert man im Fall eines Übergriffs auf Mitmenschen richtig? Und wie kann man in bedrohlichen Situationen Hilfe leisten, ohne sich selbst zu gefährden? Die Münchner Polizeiinspektion Laim/Hadern gibt dazu regelmäßig Selbsthilfekurse. In Rollenspielen lernen die Teilnehmer Situationen einzuschätzen und im Ernstfall richtig zu handeln. Die Staatszeitung war dabei.

Blassgelb getünchte Wände. Ein paar Topfpflanzen auf der Fensterbank. Auf einem Tisch in der Ecke: Weihnachtspapierservietten im Spätsommer. Nicht anders hat man sich ein Polizeibüro vorgestellt. In der Mitte des Raums allerdings stehen Stühle, angeordnet wie Sitze in einem Bus. Eine Gefahrensituation soll gespielt werden. Improvisationstheater auf der Polizeiinspektion 41.

Rund 100 000 Münchner leben im Revier Laim/Hadern. Hundert Beamte sind für sie zuständig. Die Referentinnen Christina Nitsch und Natalie Ihnle arbeiten als Beamte im Jugend- und Kontaktbereich vor allem daran, Verbrechen zu verhindern. Unter anderem schulen sie Interessierte in Zivilcourage und stärken ihre Fähigkeit, sich bei Gefahr selbst zu schützen und zu wehren. Nicht mit sportlichen Tritten und Handkantenschlägen, wie zwei junge Teilnehmerinnen des Kurses „Zivilcourage“ gehofft hatten: „Wir dachten, wir lernen hier kämpfen!“ Sondern mit ein paar wenigen Kniffen, die sich leicht einprägen, aber große Wirkung haben.

An diesem Abend also: Gefahr im Bus. Den Fahrer mimt, engagiert und zupackend, ein Herr mit dunklem Schnauzer. Herein schlurft Christina Nitsch, im wirklichen Leben ein gewinnender Typ, hier allerdings eine junge, maulige Frau, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie mampft Kaugummi, streitet schon beim Reinkommen kurz mit dem Fahrer. Drückt sich dann in den Sitz ganz hinten. Und beginnt, die verschüchterte Frau neben sich ganz unverschämt zu belästigen.

Sehr bekannt kommt einem das vor. Gerade so, als hätte sich die Szene eben auf dem Weg zur Polizeistation ereignet. Bekannt ist auch das unangenehme Gefühl, das einen beim Zuschauen begleitet. Man möchte ja helfen. Man weiß nur nicht, wie.

Was Menschen davon abhält, couragiert einzugreifen, erklären die Kontaktbeamtinnen so: Man fürchtet, die Situation falsch einzuschätzen. Möchte nichts falsch machen und tut lieber gar nichts. Wägt ab, ob es sich wirklich lohnt, den teuren Theaterabend sausen zu lassen, für einen Konflikt von irgendwelchen Leuten auf der Straße. Schließlich geht einen die Sache eigentlich gar nichts an! Groß ist auch die Angst, selbst zum Opfer zu werden. Dazu kommt die Standardüberlegung, die sich lähmend auf Gruppen zu legen pflegt: Warum soll ausgerechnet ich eingreifen? Hier sind doch genug andere Leute, die helfen könnten!

All das ist zwar verständlich, aber wenn alle so denken, passiert, was nicht passieren darf. Ein Sterbender liegt vor dem Geldautomaten einer Bank – keiner nimmt sich seiner an. Ein Kind ertrinkt im See, niemand springt ihm hinterher. Mehr Zivilcourage kann man sich da, auch um der eigenen Sicherheit willen, nur wünschen.

„Jeder kann Hilfe leisten“ – man es muss es sogar!

Aber wie das bei Kursen so ist, kommen auch zur Polizeistation Laim vor allem die, die ohnehin schon auf dem richtigen Weg sind. Eine Dame erinnert sich, einmal vom Bus aus zwei Männer gesehen zu haben, die einen dritten belästigten. An der nächsten Haltestelle stieg sie aus und lief zurück. Als sie am Tatort ankam, hatten die beiden bereits von ihrem Opfer abgelassen. Zum Glück. Und doch bleiben Zweifel: „Ich frage mich: Hätte ich wirklich den Mut gehabt, etwas zu tun? Wie kann ich richtig helfen?“

Eine andere Kursteilnehmerin mischt sich grundsätzlich ein, wenn jemand in Gefahr ist. Ihr Mann dagegen versucht, sie zu bremsen. Hat er womöglich recht mit der Vermutung, dass sie sich durch ihr Engagement selbst in Gefahr bringt?

Natürlich soll man sich nicht selbst gefährden, sagen die Polizistinnen. Aber ganz klar gilt: „Jeder kann Hilfe leisten.“ Man muss es sogar. Die Polizistinnen beamen einen Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch an die Wand. Paragraf 323c. Unterlassene Hilfeleistung. Wer bei Unglücksfällen oder Gefahr oder Not keine Hilfe leistet, heißt es da, wird bestraft. Gut also, wenn der letzte Erste-Hilfe-Kurs nicht allzu lang her ist. Denn es ist durchaus fraglich, ob man dreißig Jahre nach der Führerscheinprüfung noch weiß, wie man einen Patienten in die stabile Seitenlage manövriert. Noch dazu, wenn man selbst unter Stress steht.

Zurück zum Bus. Das Opfer, gespielt von Kontaktbeamtin Ihnle, wehrt sich so zaghaft und leise, dass keiner es hört. Was man besser machen könnte in einer solchen Situation? Die Stimme anheben. Laut und bestimmt sein. Den Täter siezen, damit jeder weiß, was Sache ist. Wichtig auch, um gar nicht erst zum Opfer zu werden: eine aufrechte, selbstbewusste Sitzhaltung und ein Platz weit vorn beim Busfahrer.

Und die Mitfahrer, die eingreifen und der belästigten Frau helfen wollen? Die können ihr die Hand reichen und sie, als „alte Bekannte“, am Täter vorbei nach vorn ziehen, auf einen anderen Platz. Auch wichtig bei Konfliktsituationen oder Unfällen: dass einer die Führung übernimmt und feste Aufgaben an die anderen verteilt. Ideal, wenn man dann weiß, wie man eigentlich per Handy einen Notruf absetzt. Oder worauf es bei einer Täterbeschreibung ankommt. Denn die sind meistens mehr als ungenau. Dunkel gekleidet, ein Mann zwischen 1,75 und 1,80 Meter: Damit können Polizisten nicht viel anfangen. Die farbigen Flip-Flops dagegen, eine Narbe oder Brille helfen schon eher bei der Verfolgung.

Und was, wenn zwei sich prügeln? Geht man dazwischen? Die Beamtinnen raten ab. „Wenn Sie das tun, müssen Sie damit rechnen, dass Sie was abkriegen“, sagt Ihnle. Wer einen schwarzen Gürtel im Kampfsport hat, könne sich das vielleicht zutrauen. Aber auch dann bleibt Helfen gefährlich. Könnte ja sein, dass ein Messer im Spiel ist.

Überhaupt: Waffen. Auch hier haben die Beamtinnen einen Paragrafen zur Hand. Paragraf 32 des Strafgesetzbuchs regelt, was man tun darf, um sich selbst zu schützen. „Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden“, heißt es da.

Ein Pfefferspray? Davon raten die Expertinnen ab

Natürlich gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. „Sie dürfen sich wehren! Aber Sie dürfen nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen!“ Vorn auf dem Tisch hantiert Natalie Ihnle äußerst lässig mit Messer, Pistole, Wurfstern und Pfefferspray. Allesamt völlig ungeeignet zur Selbstverteidigung, erklärt sie. Warum? Weil der Täter sich die Waffen schnappen und gegen das Opfer richten könnte. Besser sei es, schön viel Krach zu machen und so Aufmerksamkeit zu erregen: mit einer Trillerpfeife zum Beispiel oder einem sogenannten Schrillalarm.

Mittlerweile ist es draußen dunkel geworden. Eine Trillerpfeife geben die Beamtinnen den Kursteilnehmern als Geschenk mit auf den Weg. Und den Rat, dahin zu gehen, wo „die drei L sind“: Licht, Lärm, Leute. Sich also nicht für den kürzesten, sondern für den belebtesten Heimweg zu entscheiden. Außerdem: Betrunkenen aus dem Weg zu gehen, ebenso Jugendgruppen.

Und wenn doch etwas passiert? Dann hilft es oft, laut STOPP zu schreien – auch etwas, das man üben kann. Denn die allermeisten Täter hauen ab, wenn das Opfer nicht leicht zu haben ist. Drastischer schon der Tipp der Beamtinnen, einen Schlüsselbund in die Faust zu nehmen, die Schlüssel einzeln, Spitzen nach außen, zwischen den Fingern. Das Ganze wischt man dann – die Polizistin macht eine schwungvolle Bewegung – dem Angreifer über das Gesicht und gewinnt so Zeit, um wegzulaufen. Die Beamtin: „Verkaufen Sie Ihre Haut so teuer wie möglich!“
(Monika Goetsch)

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