Leben in Bayern

Abtreibungsarzt Friedrich Stapf macht seine Arbeit aus Überzeugung: Er hat gesehen, wie Frauen aufgrund stümperhafter Eingriffe starben. (Foto: dpa/Kjer)

09.08.2021

Zurück zur Engelmacherin?

Die Praxen werden weniger, die Krankenhäuser drücken sich oft, und der Staat schaut zu: Frauen, die in Bayern abtreiben wollen, haben es nicht leicht

Er könnte schon längst im Ruhestand sein: der Arzt Friedrich Stapf, der in München eine Klinik für Schwangerschaftsabbrüche betreibt. Würde der 75-Jährige seine Arbeit beenden, wäre das für viele Frauen in Bayern ein Desaster. Denn Mediziner*innen, die im Freistaat Abtreibungen durchführen, sind rar. Manche Städte sollen ihren Kliniken Abtreibungen sogar verboten haben. „Die Situation ist widerwärtig“, wütet Stapf.

Eigentlich war es ja nicht mehr als eine Art Erinnerungsservice. Mit ihrem Antrag vom 27. April erinnerte die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag die Staatsregierung lediglich an ihre Verpflichtung, für ein ausreichendes Angebot an Einrichtungen zu sorgen, die im Freistaat Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Denn so steht es im Paragraf 13 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes: „Die Länder stellen ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicher.“ Stellen sie? Nein, stellen sie eben nicht, beklagt nicht nur die SPD. Auch Verbände wie Pro Familia und Mediziner sind mit der Situation, freundlich formuliert, unzufrieden.

„Es gibt ganze Regierungsbezirke, wo es gar niemanden mehr gibt, der noch Schwangerschaftsabbrüche vornimmt“, schimpft etwa Ruth Waldmann, die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion. „Und das führt dazu, dass die Frauen weite Reisen auf sich nehmen müssen und dass es auch zu Verzögerungen in der Behandlung kommen kann.“ Wenn aber alle Vorklärungen schon gelaufen seien, müssten die Frauen eben auch in zumutbarer Entfernung die Möglichkeit zu einem Schwangerschaftsabbruch auf dem medizinisch bestmöglichen Standard bekommen. Was die Entfernung angeht, hat das Bundesverfassungsgericht 1993 vorgegeben, dass diese „von der Frau nicht die Abwesenheit über einen Tag hinaus“ verlangen dürfe.

Stapf macht ein Drittel aller Abbrüche in Bayern

In der Theorie dürfte das noch gewährleistet sein, in der Praxis jedoch wird es da in einem Flächenland wie Bayern mitunter schon eng. Fast zwei Drittel der 11.000 bis 12.000 Abbrüche, so hat das Münchner Gesundheitsreferat 2019 erhoben, werden in München gemacht. In Augsburg, der drittgrößten Stadt Bayerns, gibt es für Frauen überhaupt keine entsprechenden Anlaufstellen. Die bayerische Regierungskoalition aus CSU und Freien Wählern sieht jedoch keinen Handlungsbedarf. Mit ihren Stimmen wurde der SPD-Antrag im Gesundheitsausschuss abgelehnt.

Dass sich ausgerechnet die bayerische Staatsregierung aus der Verantwortung stiehlt, wundert Waldmann wenig. „Die CSU hat ja in Sachen Schwangerschaftsabbrüche immer schon eine wenig konstruktive Rolle gespielt.“ Noch in den Neunzigern hätte die Staatsregierung Ärztinnen und Ärzte, die Abbrüche anbieten wollten, geradezu abgeschreckt.

In der Tat gehörten Christsoziale wie Barbara Stamm und Edmund Stoiber damals zu den energischsten Abtreibungsgegnern. Und 1996 verabschiedete der Landtag das Schwangerenhilfeergänzungsgesetz, wonach die Einnahmen aus Abtreibungen einer Praxis ein Viertel ihrer Gesamteinnahmen nicht übersteigen durften. Reine Abtreibungspraxen wären nicht mehr möglich gewesen und damit auch die meisten ambulanten Abbrüche. Zwei Jahre später kippte das Bundesverfassungsgericht den „bayerischen Sonderweg“.

Anruf bei Friedrich Stapf, einem der Ärzte, die damals erfolgreich Verfassungsbeschwerde eingelegt haben. Stapf sitzt im Auto, hat einen anstrengenden Tag hinter sich, ist auf dem Heimweg. Jetzt hat es gerade auch noch gehagelt. Ein Drittel aller Abbrüche in Bayern übernehme seine Praxis, erzählt Stapf. Bis zu 3500 sind das im Jahr.
Aber die ungleiche Verteilung der Einrichtungen über den Freistaat sieht er gar nicht so als das größte Problem an. Prinzipiell gingen die Frauen gern in die Großstadt, wo sie sicher sein können, dass sie keinen Bekannten begegnen. Im oberbayerischen Wallfahrtsort Altötting, erzählt Stapf, habe es mal einen Gynäkologen gegeben, der Abbrüche angeboten hat. Es kam niemand zu ihm.

Nein, das größere Problem ist nach Ansicht Stapfs ein anderes. Im Mai hat er im Frauenarzt, dem Fachorgan für Gynäkolog*innen, eine Anzeige geschaltet. Eine halbe Seite, 6000 Euro: „Suche Frauenarzt“. „Es hat sich nicht einer gemeldet.“ Stapf selbst ist 75 Jahre alt. Seit 40 Jahren nimmt er als niedergelassener Arzt Schwangerschaftsabbrüche vor. Man tritt ihm nicht zu nahe, wenn man vermutet, dass er den Job nicht noch jahrzehntelang machen wird.

Und Stapf ist nicht der Einzige, der schon längst im Ruhestand sein könnte. Beim Gesundheitsreferat in München waren 2019 37 Mediziner*innen gemeldet, die Schwangerschaftsabbrüche machen durften. 22 von ihnen waren bereits über 60, fünf sogar über 70. Seit 2010 sind 20 Ärzte ausgeschieden, nur sechs sind dazugekommen. Und andernorts sieht es nicht viel besser aus. „Die, die es machen, das sind größtenteils noch Medizinstudenten der 60er-, 70er-Jahre“, sagt Stapf. Als 1971 der berühmte Stern-Titel „Wir haben abgetrieben“ erschien, standen viele von ihnen im Medizinstudium oder kurz davor. „Das Bewusstsein, dass das eine politisch notwendige Sache ist, fehlt heute komplett“, findet auch Marianne Weiß von Pro Familia Augsburg.

„Massentöter“ nennen ihn die Abtreibungsgegner

„Ich mach das aus Überzeugung“, sagt Stapf. Eine Überzeugung, die aus Erlebnissen aus dieser Zeit erwachsen ist. „Ich habe während meines Studiums in der Klinik in Wiesbaden miterlebt, wie täglich Frauen nach einem illegalen Abbruch halbtot mit Blaulicht gebracht wurden, das prägt.“ 60 bis 70 solche Frauen seien regelmäßig in den drei Wiesbadener Frauenkliniken gewesen – auf sogenannten Abortstationen. Sieben Mal bekam er mit, wie Frauen starben. So erzählt er auch freimütig, dass er schon damals auf seiner Studentenbude mit Schwangerschaftsabbrüchen angefangen hat. Das erste Mal für die Freundin eines Freundes, dann hat es sich rumgesprochen. Zwischen 1968 und 1971 waren es circa 350 Eingriffe.

Heute ist Stapf der wohl bekannteste und erfahrenste Abtreibungsarzt in Deutschland. Er ist aber auch ein bunter Vogel seines Berufsstands, was nicht nur an seinen Gute-Laune-Hawaii-Hemden liegt, mit denen er die Frauen in seiner Praxis empfängt. Stapf ist keiner, der sich versteckt, das Nummernschild seines Autos lautet „STA-PF 218“. Er erzählt viel und gern. Von dem Hubschrauberflugschein, den er im hohen Alter noch gemacht hat, von seinen Begegnungen mit dem Verleger Rudolf Augstein, am meisten aber von seinem Beruf, von Schwangerschaftsabbrüchen.

Dass er damit den Hass der sogenannten Lebensschützer auf sich zieht, nimmt Stapf in Kauf. Wenn sie ihn „Massentöter“ nennen, ist das noch eine der freundlicheren Bezeichnungen. Inzwischen stehen sie wenigstens nicht mehr so oft vor der Tür. Früher wurde ihm schon einmal die Praxis gekündigt, weil die Vermieter keine Lust mehr auf die christlichen Fundamentalisten hatten, die den Arztbesuch für die Frauen zum Spießrutenlauf machten.

Die Anfeindungen tragen sicher auch dazu bei, dass so wenig junge Ärztinnen und Ärzte noch Schwangerschaftsabbrüche anbieten wollen. Der Kern des Nachwuchsproblems sitzt aber tiefer. Das fange schon in der Ausbildung an, meint Stapf. „Da kommt niemand nach, weil es auch in den bayerischen Krankenhäusern nach der Beratungsregelung noch nie gemacht wurde. Wenn Sie in Ihrer ganzen Ausbildung nur gehört haben, Schwangerschaftsabbruch, das gehört sich nicht, wir machen das nicht, dann wollen Sie das auch nicht machen. Das könnte ja Ihrem Ruf schaden.“

In der Tat gibt es nur wenige Kliniken in Bayern, die überhaupt Abbrüche nach der Beratungsregelung anbieten. Manche Städte und Landkreise, zum Beispiel Passau, sollen ihren Kliniken Abtreibungen sogar verboten haben. Stapf wird wütend. „Die Situation ist widerwärtig. Die drücken sich, wo sie nur können.“ Aber zur Gynäkologie gehöre eben die Behandlung ungewollt schwanger gewordener Frauen genauso wie Geburtshilfe oder Verhütung. „Es gibt keinen Eingriff, der in Deutschland häufiger gemacht wird als Schwangerschaftsabbrüche. Dann sollte das bitte auch im Krankenhaus gelehrt werden.“ Dass es auch anders geht als in Bayern, zeigten etwa die Städte Hamburg und Berlin. Dort würden in fast jeder Klinik Abbrüche nach der Beratungsregelung gemacht. Und dort gebe es keinen Mangel an entsprechenden niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten.

Augsburgerinnen müssen bis nach München fahren

„Moralisch halte ich es für sehr fragwürdig, dass Kliniken das überhaupt ablehnen können“, sagt auch SPD-Politikerin Waldmann. „Es gibt Notlagen, wo es zu so einer Entscheidung kommen kann. Und wenn es so weit ist, dann ist es doch klar, dass das medizinisch gut gemacht werden muss. Was ist denn die Alternative? Wir wollen doch nicht, dass die Frauen wieder zum Engelmacher gehen müssen.“

Ihre klare Forderung an die Staatsregierung: Zum einen solle sie sich dafür einsetzen, dass Schwangerschaftsabbrüche in der Medizinerausbildung besser abgebildet würden. Zum anderen müsse sie eine vernünftige Versorgung in allen Regierungsbezirken bereitstellen. „Dafür könnte man zum Beispiel die bayerischen Universitätskliniken nutzen, die ja dem Freistaat gehören. Die sollten dazu verpflichtet werden, dieses medizinische Angebot vorzuhalten.“

In Augsburg gibt es ein solches Universitätsklinikum, es ist eines der größten Krankenhäuser Deutschlands. Wenn aber eine Augsburgerin ihre Schwangerschaft abbrechen möchte, muss sie nach München fahren. Wenn sie das den Frauen sage, seien diese oft schockiert, erzählt Familienberaterin Weiß. „Die Frauen oder Paare gehen davon aus, dass ich ihnen jetzt ein paar Adressen in Augsburg nenne. Stattdessen muss ich ihnen sagen, dass es nur in München gemacht wird. Das ist doch überhaupt nicht nachvollziehbar.“

Weiß ist auch überzeugt davon, dass durch die bayerische Politik, es den Frauen möglichst schwer zu machen, keine einzige Abtreibung verhindert wird. Im Gegenteil: Die Frauen fühlten sich vielfach unter Druck gesetzt und schauten nur, dass sie den Schwangerschaftsabbruch trotz der Hürden rechtzeitig über die Bühne brächten. „Dabei müsste man ihnen doch die Möglichkeit geben, zur Ruhe zu kommen, die Frauen brauchen Zeit für Gespräche und zum Nachdenken, um mögliche Alternativen zum Abbruch auszuloten.“

Übrigens habe sich nun doch noch ein Bewerber auf seine Stellenanzeige gemeldet, schreibt Friedrich Stapf ein paar Tage später in einer E-Mail. Alter: 75 Jahre.
(Dominik Baur)

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