Leben in Bayern

Horst Seehofer (CSU), der spätere Ministerpräsident, demonstrierte 1971 pfeifend vor der Staatskanzlei gegen die Gebietsreform. Später wurde er zum Befürworter. Eine neue Gebietsreform hält man in der Politik für nicht realistisch. (Foto: dpa/Lothar Parschauer)

31.01.2025

Zusammen ist man weniger allein

Bayerns Kommunen und Landkreise klagen über Schulden, Personalmangel und immer mehr Aufgaben – wäre eine neue Gebietsreform die Lösung?

Hermann Regensburger kann sich noch gut daran erinnern, wie aufgewühlt sie Anfang der 70er-Jahre im Ingolstädter Landratsamt waren. So aufgewühlt, dass im November 1971 sogar mehrere Beschäftigte lautstark vor der Staatskanzlei in München protestierten. Unter ihnen befand sich auch ein junger Mitarbeiter namens Horst Seehofer. Schließlich bangten damals alle um ihre Stellen, nachdem bekannt geworden war, dass der Landkreis Ingolstadt im Zuge der Gebietsreform aufgelöst werden soll. Ein Schock, weil niemand vor Ort damit gerechnet hatte. Als sich eine Arbeitsgruppe der Staatsregierung an die Erarbeitung eines Konzepts machte, habe man in Ingolstadt noch gedacht: „Das interessiert uns nicht, wir sind ja der größte Landkreis in der Region“, erzählt der CSU-Politiker Regensburger.

Dass der Landkreis der Reform dann doch zum Opfer fiel, das schreibt Regensburger, der damals Personalratsvorsitzender im Landratsamt war, „politischer Einflussnahme aus Eichstätter Ecke“ zu. Der Landkreis Eichstätt wuchs nach der Reform jedenfalls deutlich an – auch auf Kosten des bisherigen Ingolstädter Landkreises. Übrig blieb die ehemalige Kreisstadt Ingolstadt, die wiederum durch mehrere Eingemeindungen auf einen Schlag mehr als 8000 neue Einwohnerinnen und Einwohner bekam.

Fassungslosigkeit, Proteste und Widerstand erlebte man in diesen Jahren in vielen Teilen Bayerns. Aus 143 Landkreisen wurden 71. Dabei verloren auch viele kreisfreie Städte ihre Sonderstellung. Zum Teil wurde auch keine Rücksicht auf historisch gewachsene Gebilde genommen. So wurde etwa der traditionsreiche Landkreis Wasserburg aufgelöst. Die Zahl der Gemeinden wurde in einem weiteren Schritt bis zum Jahr 1978 von 7004 auf 2050 reduziert. Vielerorts erfolgten Eingemeindungen ungeachtet der deutlichen Ablehnung der Bevölkerung.

Bruno Merk sollte Bayerns Kommunen fit machen

Ministerpräsident Alfons Goppel hatte den Innenminister Bruno Merk mit der Reform betraut, deren Ziel es war, Bayerns Gemeinden und Landkreise fit für die Zukunft zu machen. Mit dem Zusammenschluss zu größeren Einheiten sollte eine finanzielle und personelle Überforderung kleiner Kommunen verhindert werden. Probleme, über die heute auch wieder geklagt wird.

Damals gab es allerdings einige Landkreise mit weniger als 20 000 Einwohnern und eigenständige Gemeinden, in denen nur um die hundert Menschen lebten. Richtwert für die neue Größe der Landkreise waren mindestens 80.000 Einwohner, für kreisfreie Städte 25.000 und für eigenständige Gemeinden 5000, letztere Zahl wurde später auf 2000 korrigiert. Gemeinden ab 1000 Einwohner sollten Verwaltungsgemeinschaften mit Nachbargemeinden bilden können.

„Es war zwingend notwendig“, sagt Hermann Regensburger heute. „Wir haben einen guten Mittelweg gefunden für Leistungsfähigkeit und Bürgernähe.“ Auch für Ingolstadt hat sich die Reform aus seiner Sicht letztlich als gut erwiesen. Zusammen mit den umliegenden Landkreisen entwickelte sich die ländliche Region – nicht zuletzt dank Audi – zu einem prosperierenden Wirtschaftszentrum.

Auch der heutige Innenminister Joachim Herrmann wertete die Reform 50 Jahre nach Inkrafttreten am 1. Juli 1972 als „bestens bewährt“. Bayern habe sich damals für eine Reform mit Augenmaß entschieden, für einen „bürgerfreundlichen Weg“ mit überschaubaren, aber dennoch leistungsfähigen Verwaltungseinheiten.

Zu einer etwas anderen Bewertung kommt die Historikerin Julia Mattern, die sich in ihrer Studie "Dörfer nach der Gebietsreform. Die Auswirkungen der kommunalen Neuordnung auf kleine Gemeinden in Bayern (1978 bis 2008)" eingehend mit dem Thema befasst hat. Auch Mattern räumt ein, dass die Gebietsreform angesichts der vorher sehr kleinteiligen Strukturen in Teilen notwendig war. Sie verweist in der Studie aber auch auf die vielen negativen Folgen, gerade für die eingemeindeten Orte. Neue Infrastruktureinrichtungen wurden eher in den Hauptorten gebaut, die Verkehrsanbindung wurde oft schlechter, sogar die Bodenrichtwerte entwickelten sich laut Studie in der jeweiligen Hauptgemeinde besser.

Fast der wichtigste Punkt: Durch die Zusammenlegungen wurden Tausende politische Repräsentanten und Repräsentantinnen aus der Verantwortung gedrängt, in Rathäusern, Kreistagen und Gemeinderäten. Die Chance, das eigene Anliegen direkt vorzubringen, wurde so für die Bevölkerung deutlich verringert. Interessanterweise kommt Mattern auch zu dem Schluss, dass durch die Reform nicht wirklich Geld gespart wurde.

Mehr Digitalisierung, mehr Vernetzung 

Könnte eine neue Gebietsreform heute trotzdem die Lösung in Zeiten leerer Kassen, eines Bevölkerungsrückgangs in kleinen Gemeinden sowie immer mehr Aufgaben für die Kommunen und gleichzeitigen Personalmangels sein? Matthias Simon vom Bayerischen Gemeindetag findet ganz klar: nein. „Es sind ja jetzt noch die Nachwehen von vor über 50 Jahren zu bewältigen: der Identitätsverlust und der Verlust von Demokratieengagement in der Fläche“, sagt Simon. Natürlich brauche es Antworten auf die aktuellen Herausforderungen. Doch der Gemeindetag stellt sich dabei eher mehr interkommunale Zusammenarbeit und eine zunehmende Digitalisierung in der Verwaltung vor.

Auf die Digitalisierung und die verstärkte Zusammenarbeit von Kommunen gerade im ländlichen Raum setzt auch das Innenministerium. Derzeit gebe es keine Planungen für eine neue Gebietsreform, teilt das Ministerium mit. Die Schaffung größerer Verwaltungseinheiten sei kein „Allheilmittel, um den Herausforderungen, die sinkende Einwohnerzahlen und begrenzte finanzielle Ressourcen für die Kommunalverwaltung bedeuten, zu begegnen“.

Bis Ende 2025 soll es stattdessen einen einheitlichen kommunalen IT-Anbieter geben, über den dann die zentralen Aufgaben wie Wohnsitzanmeldung oder Baugenehmigung abgewickelt werden können. Ziel der Staatsregierung ist irgendwann eine voll digitalisierte Verwaltung. Nur ist noch nicht ganz klar, wer die Kosten dafür übernimmt. Jede Kommune hat ja bisher schon ihr eigenes System, das sie dann ersetzen müsste.

Langfristig ließen sich mit der digitalen und der analogen Vernetzung der Kommunen aber Kosten sparen, davon sind auch die meisten Parteien überzeugt. Digitalisierung und verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Kommunen, das sind die wiederkehrenden Schlagwörter bei der Frage nach einer Lösung der derzeitigen Probleme der Kommunen. Nur die AfD sieht einen anderen Weg: Richard Graupner, der kommunalpolitische Sprecher der AfD-Landtagsfraktion, kündigt ein Volksbegehren für ein Asylnotstandsgesetz an. Mit dem Gesetz könnten Kommunen selbst entscheiden, wie viele Asylbewerberinnen und -bewerber sie unterbringen können. Das würde entlasten, im Gegensatz zu einer Gebietsreform, sagt Graupner.

Eine neue Gebietsreform von oben sei nicht notwendig, sagt denn auch Holger Dremel, innenpolitischer Sprecher der CSU-Landtagsfraktion. „Finanzielle Effekte wären gering, dafür würde man gewachsene Gemeinschaften auseinanderreißen und die demokratischen Teilhabemöglichkeiten der Menschen weiter verringern“, erklärt Christiane Feichtmeier, die Sprecherin für kommunale Fragen der SPD-Landtagsfraktion. Die Möglichkeit der Bildung von Zweckverbänden und Verwaltungskooperationen mache inzwischen erzwungene Gemeindefusionen obsolet, erklärt Karsten Klein, Landesgruppenchef der FDP im Bundestag. „Von diesen Möglichkeiten sollten vor allem kleinere Kommunen vermehrt Gebrauch machen.“ So sieht es auch Andreas Birzele, der Sprecher für kommunale Fragen der Landtags-Grünen. Freiwillig könnten kleine Kommunen aber fusionieren.

Roland Weigert, der kommunalpolitische Sprecher der Freien Wähler im Landtag, könnte sich grundsätzlich eine Gebietsreform vorstellen, die dann aber alle Ebenen in Bayern umfasst. Und sie sollte aus seiner Sicht nicht vorrangig geografisch stattfinden. Für Weigert ginge es um eine digitale Transformation Bayerns, die Technologie, Organisation und Kultur miteinander verbindet. Dafür müsste dann auch genug Geld zur Verfügung gestellt werden. Ein möglicher neuer Zuschnitt mancher Gemeinde-, Landkreis- oder Bezirksgrenzen wäre dabei aus seiner Sicht denkbar, würde aber nicht im Vordergrund stehen.

Wer sollte die Reform denn heute umsetzen?

Für Hermann Regensburger, der 1974 im Landtag saß und später auch Staatssekretär im Innenministerium war, sind das aber nur rein theoretische Überlegungen. Niemand könnte aus seiner Sicht heute eine solche Jahrhundertreform umsetzen, die er jetzt auch nicht als zwingend notwendig erachtet. Auch damals sei die erfolgreiche Umsetzung nur einem zu verdanken gewesen: „Wenn wir nicht den Bruno Merk gehabt hätten, einen richtigen Sturkopf, wäre das nicht gelaufen.“ Merk konnte sich sogar gegen Franz Josef Strauß durchsetzen, der gegen die Reform war. „Ein anderer hätte das nicht geschafft“, sagt Regensburger. (Thorsten Stark)
 

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