Politik

(Foto: dpa/Frank May)

09.08.2021

1000 Abgeordnete im Bundestag?

Eigentlich soll der auf 709 Abgeordnete angewachsene Bundestag wieder kleiner werden. Bei der Wahl im September könnte nach Einschätzung eines Fachmanns aber genau das Gegenteil eintreten. Er mahnt: "Ein zu großer Bundestag verschlechtert die Qualität des Politikbetriebs"

Der nächste Bundestag könnte nach Berechnungen des Wahlrechtsexperten Robert Vehrkamp gut 1000 Abgeordnete stark werden. "Die Bandbreite der plausibel möglichen Bundestagsgrößen läuft von etwa 650 bis mehr als 1000. Das kann man nicht ausschließen", sagte der Fachmann der Bertelsmann Stiftung. Er gehört auch der vom Bundestag eingesetzten Kommission zur Reform des Wahlrechts und Modernisierung der Parlamentsarbeit an.

Die Normgröße des Bundestags beträgt 598 Mandate. Seit der Wahl 2017 zählt er 709 Abgeordnete - so viele wie nie zuvor. CDU/CSU und SPD haben zwar im vergangenen Oktober eine Änderung des Wahlrechts durchgesetzt, diese wird nach Auffassung von Fachleuten aber wohl kaum zur erhofften Verkleinerung des Parlaments führen.

Das Thema wird daher auch den nächsten Bundestag beschäftigen. Vor allem CDU und CSU müssten sich endlich bewegen, sagte die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Britta Haßelmann, der dpa. "Sie haben eine wirksame Reform jahrelang blockiert und erst auf dem letzten Drücker agiert", kritisierte Haßelmann. "Aber auch die SPD hat keine besondere Energie in eine notwendige Veränderung gesteckt."

Eine genaue Vorhersage über die Größe des nächsten Bundestag ist nach Vehrkamps Darstellung nicht möglich. "Was in der Diskussion häufig übersehen wird: Es kommt nicht nur auf das Zweitstimmenergebnis an. Mindestens genauso stark hängt es vom Stimmensplitting ab, wie viele Überhangmandate es geben wird. Und das Splittingverhalten ist noch unkalkulierbarer als die Zweitstimmenvergabe."

"Enorme Auswirkungen auf Arbeitsfähigkeit des Parlaments"

So könnten beispielsweise die Grünen etwa doppelt so viele Zweitstimmen bekommen wie bei der Wahl 2017. "Wir wissen aber nicht, wie dann das Splittingverhalten der Grünen-Wähler aussieht." Würden etwa 20 Prozent von ihnen - etwa aus alter Verbundenheit - ihre Erststimme der Union geben, habe das "einen enormen Hebeleffekt", sagte Vehrkamp. "Dann ist man je nach Szenario schnell bei 880, 950 oder im Extremfall sogar bei über 1000 Mandaten. Das muss nicht so kommen, ist aber möglich. Das geltende Wahlrecht ist mit Blick auf die Größe des Bundestages ein echtes Vabanquespiel."

Vehrkamp hat aus dem ARD-"Deutschlandtrend" vom 5. August (CDU/CSU: 27 Prozent, Grüne: 19, SPD: 18, FDP: 12, AfD: 10, Linke: 6) mit drei verschiedenen Splittingszenarien die Größe des Bundestags errechnet. Je nach Szenario kommt er auf 695, 851 oder 978 Abgeordnete.

Die Grünen-Politikerin Haßelmann sagte zum möglichen weiteren Wachsen des Parlaments: "Das würde dann den Druck zusätzlich erhöhen, diese grottenschlechte Reform, für die CDU/CSU und SPD Verantwortung tragen, noch mal anzupacken." Ihre Partei halte am bewährten System des personalisierten Verhältniswahlrechts fest. "Der einzige verlässlich wirksame Hebel ist hier die Reduzierung der Wahlkreise."

Die Größe des Bundestags habe enorme Auswirkungen auf seine Arbeits- und Politikfähigkeit, sagte Wahlforscher Vehrkamp. "Ein zu großer Bundestag verschlechtert die Qualität des Politikbetriebs." Das könne selbst die Regierungsbildung beeinflussen. "Je größer die Fraktionen, umso schwerer könnte es werden, knappe Mehrheiten zu organisieren und für die Dauer der Legislaturperiode stabil zu halten." (dpa)

Abspeckrezept für den Bundestag verzweifelt gesucht
Norbert Lammert - gescheitert, Wolfgang Schäuble - gescheitert: Zwei Bundestagspräsidenten haben bereits vergeblich versucht, eine Wahlrechtsreform hinzubekommen, die verhindert, dass der Bundestag immer größer wird. Von der ersten Woche der Wahlperiode an habe er sich darum bemüht, sagte Schäuble jüngst in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. "Trotz der Investition von viel Mühe und Geduld und noch mehr Zeit und Kraft sind alle Versuche, eine wirksame Reform zu erreichen, gescheitert. Das gehört für mich zu den größten Enttäuschungen dieser Legislaturperiode."

So erbt nun also der nächste Bundestag diese Mammutaufgabe. Richten soll es eine dazu bereits eingesetzte Kommission aus Abgeordneten und Fachleuten. Die Ausgangslage: Mit der Wahl 2017 wuchs der Bundestag auf die Rekordgröße von 709 Abgeordneten. Das Soll liegt bei 598. Wie das Parlament wieder kleiner bekommen, lautet die Frage.

DAS REFÖRMCHEN 2020
Es ist nicht so, dass in der jetzt zu Ende gehenden Wahlperiode nichts passiert wäre. Nachdem vor allem CDU und CSU jahrelang eine Reform verhindert hatten, setzten sie mit der SPD im vergangenen Oktober eine Wahlrechtsänderung durch. Allerdings konnten sie sich darauf nur mühsam einigen. Entsprechend dünn ist der Inhalt. "CDU und CSU haben eine wirksame Reform jahrelang blockiert und erst auf dem letzten Drücker agiert", sagt die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Britta Haßelmann. "Aber auch die SPD hat keine besondere Energie in eine notwendige Veränderung gesteckt."

So konnten sich CDU/CSU und SPD vor allem nicht zu dem heiklen Schritt durchringen, die Zahl der 299 Wahlkreise zu verringern. Beschlossen wurde nur, Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten zu verrechnen. Und beim Überschreiten der Regelgröße von 598 Sitzen sollen bis zu drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden.

Wesentlich weitgehender war ein gemeinsamer Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Linken, der aber im Bundestag keine Mehrheit bekam. Er sah unter anderem vor, die Zahl der Wahlkreise auf 250 zu verringern - was automatisch zu weniger Abgeordneten geführt hätte.

DAS WAHLRECHT
In Deutschland gilt das personalisierte Verhältniswahlrecht. Mit der Erststimme wird in jedem der 299 Wahlkreise ein Kandidat direkt gewählt. Entscheidend für die Stärke einer Partei im Parlament ist aber ihr Zweitstimmergebnis. Mit der Zweitstimme werden Parteien gewählt, die dazu Landeslisten aufstellen. Im Idealfall würden über die Listen ebenfalls 299 Abgeordnete in den Bundestag einziehen.

Aber: Hat eine Partei über die Erststimme mehr Direktmandate erhalten als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, darf sie diese behalten. Man spricht von Überhangmandaten. Damit sich die über das Zweitstimmenergebnis ermittelten Mehrheitsverhältnisse trotzdem tatsächlich im Bundestag abbilden, erhalten die anderen Parteien dafür Ausgleichsmandate. Dieses komplexe System lässt den Bundestag wachsen und wachsen und wachsen.

So kam es bei der Bundestagswahl 2017 zu 46 Überhangmandaten: 36 erzielte die CDU, 7 die CSU und 3 die SPD. Zur Folge hatte dies 65 Ausgleichsmandate: 19 für die SPD, 15 für die FDP, 11 für die AfD, 10 für die Linke und ebenfalls 10 für die Grünen.

WIE ES WEITERGEHT
Zunächst ist nun die eingesetzte Kommission am Zug. Doch selbst Bundestagspräsident Schäuble ist pessimistisch. "Das Problem bleibt die Quadratur des Kreises, und das wird auch die neue Kommission nicht lösen können", sagt er. Daher werde sich der nächste Bundestag - also die Fraktionen - dieser Aufgabe wieder stellen müssen.

Der Start der Kommission war schon mal holperig. Bislang traf sie sich nur zur konstituierenden Sitzung. Aus dem Zwischenbericht, den sie bis zum 30. September vorlegen soll, wird wohl nichts. Ihren Abschlussbericht soll die Kommission bis Mitte 2023 präsentieren.

Der Bundestag trifft derweil Vorsorge. Gerade wird in der Nähe des Reichstags ein neues Bürogebäude in moderner Modulbauweise errichtet. Für veranschlagte 70 Millionen Euro entstehen 400 Büros, die zum Jahresende bezugsfertig sein sollen. Sollte der Bundestag tatsächlich nochmals stark wachsen, würden die Abgeordneten zumindest nicht auf der Straße stehen. Nur im Plenarsaal würde es deutlich enger. (dpa)

 

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