Selbstständigkeit – das klingt nach Freiheit. In den USA ist diese Beschäftigungsform daher der Inbegriff des American Dream. In Deutschland eher ein bürokratischer Albtraum. Gerade erhalten wieder viele Selbstständige Post von ihrer gesetzlichen Krankenversicherung mit horrenden Nachzahlungsforderungen für das Jahr 2019 von rund 800 Euro – pro Monat. Betroffen sind vor allem freiberuflich Tätige mit geringen Einkünften wie zum Beispiel aus der Friseur-, Fußpflege- und Kleingewerbebranche. Die Folgen sind massiv: Viele haben schlicht nicht das Geld, die rund 10.000 Euro plus Säumniszuschlag abzustottern, und müssen Insolvenz anmelden.
Grund: Bei uns herrscht Kranken- und Pflegeversicherungspflicht. Während bei Angestellten der Arbeitgeber die Hälfte der Kosten übernimmt, müssen Selbstständige bis zu einem Einkommen von 59.850 Euro die vollen 14,6 Prozent ihres Bruttoeinkommens zahlen – plus Zusatzbeitrag. Berechnet wird dieser anhand des Einkommensteuerbescheids. Liegt dieser den gesetzlichen Krankenkassen nicht spätestens nach drei Jahren vor, verlangen sie statt der realen Einnahmen den Höchstbeitrag. „Teilweise ist dieser aber höher als die monatlichen Einnahmen der Mitglieder“, kritisiert Sascha Straub von der Verbraucherzentrale Bayern.
Niemand kennt die Zahl der betroffenen Menschen
Wie viele Menschen betroffen sind, können weder der Spitzenverband der Krankenkassen (GKV) noch das Bundesgesundheitsministerium sagen. Laut DAK-Krankenversicherung versäumen pro Jahr bis zu 0,5 Prozent ihrer Mitglieder, die Einnahmen fristgerecht einzureichen. Hochgerechnet auf 73 Millionen gesetzlich Versicherter, wären das jährlich über 366.000 Menschen. Es geht also um Milliarden Euro. Die Krankenkassen berufen sich bei ihren Forderungen auf das Sozialgesetzbuch V (SGB V). „Alle betroffenen Mitglieder wurden Ende des Jahres 2022 schriftlich kontaktiert und über die rechtlichen Konsequenzen der fehlenden Mitwirkung aufgeklärt“, betont der GKV-Spitzenverband.
Natürlich müssen Versicherte ihren Mitwirkungspflichten nachkommen. Manchmal rutscht einem aber einfach etwas durch. Als Gründe nennen Betroffene die Arbeitsbelastung, schwer erkrankte Familienmitglieder oder den Glauben, den Einkommensteuerbescheid nachreichen zu können. Das ist aber nicht möglich: Nach der Frist eingesandte Unterlagen werden in einem Widerspruchsverfahren selbst bei drastisch niedrigeren Einnahmen nicht berücksichtigt. Eine nachträgliche Änderung der Beitragsfestsetzung sei gesetzlich nicht vorgesehen, heißt es vom GKV-Spitzenverband. Ausnahmen gebe es nur, wenn die Steuerbehörden die Verspätung zu verantworten hätten.
Völlig überzogenes Vorgehen
Die Verbraucherzentrale Bayern hält dieses Vorgehen für „völlig überzogen und rechtswidrig“: „Werden neue Tatsachen bekannt, muss eine falsche Entscheidung korrigiert werden“, argumentiert Straub. Im Sozialrecht seien richtige Entscheidungen wichtiger als Fristen. Tatsächlich ist die Gesetzeslage unklar. Im SGB V heißt es beispielsweise: Es „ist sicherzustellen, dass die Beitragsbelastung die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des freiwilligen Mitglieds berücksichtigt“. Für Straub ist daher das harte Vorgehen der Krankenkassen gegen säumige Versicherte nicht gerechtfertigt. „Andernfalls hätte der Gesetzgeber es explizit so formulieren müssen.“
Das sehen die Grünen im Bundestag genauso. Auch deren Abgeordneten Maik Außendorf erreichten dieses Jahr viele Beschwerden von Selbstständigen über Nachforderungen von Krankenkassen zu Höchstsatzbeträgen. „Das Sozialgesetzbuch schließt nicht aus, dass nachgereichte Unterlagen berücksichtigt werden“, meint er. Krankenkassen und auch das Bundesamt für Soziale Sicherung als Aufsichtsbehörde täten gut daran, in solchen Situationen kulanter mit Kleinselbstständigen mit geringem Einkommen umzugehen. Diese sind laut Außendorf in Deutschland sowieso schon durch das Steuerrecht strukturell benachteiligt.
Im Hause Lauterbach prüft man
Ob es dazu kommt, bleibt abzuwarten. Das Haus von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schreibt auf Anfrage der Staatszeitung zwar, es werde derzeit geprüft, „ob es zusätzlicher Maßnahmen zur Klarstellung der Rechtslage bedarf“. Krankenkassen wissen aber noch nichts von dem Vorhaben. „Geplante gesetzliche Änderungen sind uns derzeit nicht bekannt“, sagt beispielsweise ein Sprecher der TK-Krankenversicherung. Mit Unterstützung aus Bayern ist nicht zu rechnen. Die Frist von drei Jahren sei für Versicherte „grundsätzlich zumutbar“, heißt es aus dem Gesundheitsministerium.
Solange das Gesetz nicht konkretisiert wird, können sich Betroffene kaum wehren. Der Sozialverband VdK Bayern hilft zwar bei Problemen mit Krankenkassen. Zu Fragen des Steuerrechts darf er aber nicht beraten, weshalb Anfragen zu diesem Thema standardmäßig abgelehnt werden. Selbst eine Klage hilft nicht weiter: Die Gewinnaussichten sind unsicher und bis zu einer letztinstanzlichen Entscheidung können Jahre vergehen. Gleichzeitig müssen Säumige neben den Gerichtskosten ihre absurd hohen Beitragsnachforderungen weiterzahlen. Es wird dringend Zeit, Kleinselbstständige in Deutschland zu fördern, statt bürokratisch zu überfordern. (David Lohmann)
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!