Die Träger der Kinder- und Jugendarbeit in Deutschland schlagen Alarm. Zwar sind laut Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) die Kosten für Jugendarbeit, Familienfreizeiten, Erziehungsberatung, Heimunterbringung und Krippen oder Kindergärten von 2003 bis 2013 um mehr als 70 Prozent auf bundesweit 35,5 Milliarden Euro gestiegen. „Trotz insgesamt steigender Leistungen ist der Kostendruck auf die Träger enorm“, kritisiert zum Beispiel der Geschäftsführer der Wolfratshausener Kinder- und Jugendhilfe „Inselhaus“, Rolf Merten. Dies wirkt sich direkt auf die tägliche Arbeit der bayerischen Erziehungsberater mit jährlich über 20 000 Fällen oder die rund 8000 Pflegefamilien im Freistaat aus.
In der stationären Kinder- und Jugendhilfe stehen an einem Tag während der Schulzeit zwischen 14 und 22 Uhr für neun Kinder mit Erziehungshilfebedarf nur an fünf Stunden zwei Fachkräfte zur Verfügung. Gleiches gilt an schulfreien Tagen bei einer Betreuungszeit von 8 bis 23 Uhr. „In der restlichen Zeit ist eine Fachkraft alleine für neun Kinder verantwortlich“, klagt Merten. In den Ferienzeiten seien lediglich an zehn Tagen pro Jahr jeweils für zehn Stunden zwei Fachkräfte gleichzeitig vorgesehen. Gleichzeitig wüchsen die Anforderungen an das pädagogische Personal. „Wir haben auf unsere letzten Zeitungsannoncen keine einzige Bewerbung bekommen.“
Den Fachkräftemangel bezeichnet auch der Gesamtleiter Achim Weiss von der Evangelischen Kinder- und Jugendhilfe in Feldkirchen als „mit Abstand größtes Problem“. Eine weitere Sorge: „Da es die Politik jahrelang versäumt hat, die deutschlandweite Verteilung der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Angriff zu nehmen, sind in München sehr viele riesige Angebote geschaffen worden“, erklärt Weiss. Durch die jetzt angegangene Verteilung befürchteten viele Einrichtungen, bald halb leer dazustehen. Generell sei durch die hohen Flüchtlingszahlen in den Jugendämtern viel Arbeit liegengeblieben.
Keine einzige Bewerbung
Weitere Gründe für den enormen Kostendruck in der Kinder- und Jugendhilfe sind zum Beispiel der krankheitsbedingte Personalausfall, der nur mit vier Prozent bei der Jahresarbeitszeit berücksichtigt wird. Hilfskräfte werden laut Experten nicht anerkannt und auch nicht vergütet. Außerdem würden die Kommissionen, mit denen über das Entgelt verhandelt wird, die Kosten für Freiwillige im sozialen Jahr nicht immer akzeptieren. Hinzu kämen nicht zuletzt für Hausmeistertätigkeiten 30 Minuten und für Reinigung, Verpflegung, Wäsche oder Einkauf 3,9 Stunden pro Kind und Woche. „Überlegen Sie selbst, wie Sie dabei neun Kinder mit erheblichem Unterstützungsbedarf angemessen versorgen können“, sagt Inselhaus-Chef Merten.
Was die Autoren der aktuellen IW-Studie besonders stutzig macht, ist das starke Gefälle der Ausgaben für die Kinder- und Jugendarbeit zwischen den einzelnen Ländern. Mit 3900 Euro pro Minderjährigem waren die Kosten für die Kinder- und Jugendhilfe 2013 in Berlin am höchsten, Bayern liegt mit 2381 Euro im Landesvergleich nur auf dem drittletzten Platz. Bei den Hilfen zur Erziehung pro unter 18-Jährigem war der Freistaat mit 297 Euro sogar das Schlusslicht – in Bremen waren es 1196 Euro. Die Diskrepanz setzt sich laut IW-Studie ebenso in den Einzelleistungen fort: Während Spitzenreiter Berlin bei der Vollzeitpflege 23 770 Euro pro Fall ausgab, waren es in Bayern nur 10 562 Euro.
Das Sozialministerium kritisiert das IW, weil in der Studie die Bevölkerungszahlen von 2011 mit den Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe von 2013 zusammengebracht worden seien. „Laut Bildungsfinanzbericht 2015 des statistischen Bundesamts trägt Bayern rund 53 Prozent der Grundkosten“, betont eine Sprecherin von Sozialministerin Emilia Müller (CSU). Dies sei der höchste Anteil in ganz Deutschland. An anderer Stelle werde dagegen sehr viel weniger Geld als in anderen Bundesländern ausgegeben: „Denn: Hohe Ausgaben pro Fall sind keineswegs ein Qualitätsmerkmal in der Kinder- und Jugendhilfe, eher im Gegenteil.“ Je schlechter die sozioökonomischen Bedingungen und je höher die sozialen Belastungen, desto höher sei eben der Interventionsaufwand.
Kritik an der IW-Studie kommt auch von den Grünen im Landtag. „Benchmarking und Rezepte aus der freien Wirtschaft sind in der Kinder- und Jugendhilfe fehl am Platz, denn Erfolg lässt sich nicht einfach messen“, erläutert Kerstin Celina. Wichtig sei, dass eine Maßnahme genau auf das Kind in seinem jeweiligen sozialen Umfeld passt – und das könne in einer ländlichen Region in Bayern ganz anders sein als in einer Großstadt wie Berlin.
„Die Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe sind in erster Linie präventive Maßnahmen, deren Ergebnisse man nicht in einer Kosten-Nutzen-Analyse darstellen kann“, glaubt auch Gabi Schmidt von den Freien Wählern. Der geringe Mitteleinsatz zeige, dass in Bayern durchaus effizient gearbeitet werde. „Nichtsdestotrotz geraten die Kommunen hier an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit.“
Für Angelika Weikert (SPD) hat sich die Kooperation zwischen den freien Trägern und kommunalen Entscheidungsträgern in den Jugendhilfeausschüssen bewährt. „Die Unterschiede zwischen den Bundesländern lassen sich hauptsächlich durch die Fallzahlen bei der Heimunterbringung erklären“, glaubt die sozialpolitische Sprecherin. Diese seien abhängig von Faktoren wie Kriminalität, Sucht, Alter und Arbeitslosigkeit bei den Eltern.
Und der Sozialausschusschef Joachim Unterländer (CSU) widerspricht der Einschätzung des Feldkirchener Gesamtleiters Weiss, dass die Defizite im Personalbereich in Politik, Wohlfahrtsverbänden und Ausbildungsstätten noch nicht richtig angekommen seien. „Hier tut sich was“, versichert der Abgeordnete und Vize-Vorsitzende des Kuratoriums der Katholischen Stiftungsfachhochschule München der Staatszeitung. Alle Studiengänge seien gut belegt. Er meint: „Den Sozialberufen gehört die Zukunft.“ (David Lohmann)
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