In der Affäre um unrechtmäßige Asylbescheide verlangt die SPD, dass sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einschaltet. "Merkel drückt sich vor ihrer eigenen Verantwortung. Sie schweigt, tut nichts und will den Kontrollverlust im Bamf aussitzen", sagte der SPD-Vizevorsitzende Ralf Stegner der "Welt" mit Blick auf die Vorfälle in der Bremer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf). "Die Kanzlerin muss jetzt endlich dafür sorgen, dass aufgeklärt wird - und sie muss endlich selbst aufklären."
Merkel hatte auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 die Zuständigkeit eigens ins Kanzleramt geholt: Sie machte ihren Kanzleramtschef, den heutigen Wirtschaftsminister Peter Altmaier, zum Flüchtlingskoordinator. Die im Zentrum der Affäre stehende Bremer Bamf-Außenstelle steht nach Angaben der Staatsanwaltschaft im Verdacht, zwischen 2013 und 2016 mindestens 1200 Menschen ohne ausreichende Grundlage Asyl gewährt zu haben.
Der für das Bundesflüchtlingsamt zuständige neue Innenminister Horst Seehofer (CSU) kündigte erneut volle Aufklärung und Konsequenzen an, ließ aber offen, ob Behördenchefin Jutta Cordt Fehler gemacht habe, die zu ihrer Ablösung führen könnten. Mit Blick auf seine Aussage am Dienstag im Innenausschuss des Bundestags versprach Seehofer in der ZDF-Sendung "Berlin direkt": "Ich werde alles, was ich weiß, am Dienstag auch im Bundestag sagen."
FDP fordert Nachkontrollen durch externe Prüfer
Die FDP kündigte an, im Parlament zu beantragen, die Nachkontrolle aller Asylentscheide zwischen 2014 und 2017 vom Flüchtlingsamt auf externe Prüfer zu übertragen. "Die Behörde sollte sich in diesem Fall nicht selbst kontrollieren", sagte die Innenexpertin Linda Teuteberg der "Bild"-Zeitung.
Auf dem damaligen Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/2016 hatte Frank-Jürgen Weise die Behörde geleitet. Der Bamf-Gesamtpersonalrat erhob nun schwere Vorwürfe gegen ihn. "Unter der Amtsleitung von Herrn Weise wurde das Bamf auf marktwirtschaftliche Benchmarks getrimmt. Über das Grundrecht auf Asyl wurde wie am Fließband entschieden", sagte Personalrats-Chef Rudolf Scheinost den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. "Jetzt zahlen wir mit den vielen Gerichtsurteilen gegen Bamf-Entscheidungen sowie den Pannen, Fehlern und Unregelmäßigkeiten bei den Außenstellen die Rechnung für diese Behördenpolitik."
Weise verteidigte sein Vorgehen. Die Unregelmäßigkeiten in Bremen seien "im Kern auf persönliches Fehlverhalten" und "wohl auf falsch verstandene Humanität" zurückzuführen. Solche Fehler hätten "auch ohne Umbau der Behörde und Ansturm passieren können", erklärte er. Ohne "eine massive Beschleunigung mit dem Risiko, dass unerfahrene Mitarbeiter und Dolmetscher auch Fehler machen können", wären aber heute noch immer hunderttausende Asyl-Verfahren unbearbeitet, argumentierte er in denselben Blättern.
Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius (SPD) forderte eine andere Personalpolitik im Flüchtlingsamt. Nötig sei es, die vielen befristet eingestellten Entscheider zu entfristen "und das Personal aufzustocken", sagte er in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin".
Seehofer: Die gesamte Asyl-Organisation verändern
Seehofer bekräftigte, von den Bremer Vorgängen erst am 19. April erfahren zu haben, nachdem die Staatsanwaltschaft Durchsuchungen vorgenommen hatte. Er habe dann sofort gehandelt, indem er den Bundesrechnungshof als neutrale Instanz mit der Prüfung beauftragt und dem Bremer Amt verboten habe, weiter Asyl-Entscheidungen zu treffen.
Sein Staatssekretär Stephan Mayer (CSU) verteidigte die Entscheidung, Seehofer vor dessen Antrittsbesuch am 6. April in der Zentrale des Flüchtlingsamts nicht in Kenntnis gesetzt zu haben. Er habe am 4. April abends von der damaligen Bremer Bamf-Außenstellenleiterin Josefa Schmid einen knapp 100-seitigen Bericht erhalten - nur gut 24 Stunden vor Seehofers Termin. Ihm sei es wichtig gewesen, den Vorwürfen oder Gerüchten erst "auf den Grund zu gehen", bevor der Minister damit befasst würde, sagte Mayer in der ARD-Sendung "Anne Will". Und: "90 Prozent der Hinweise, die in diesem Bericht auftauchen, waren dem Bamf schon lange bekannt."
Für Seehofer zeigt der Bremer Skandal auch, wie nötig die von ihm geplanten Ankerzentren sind, in denen Asylbewerber bleiben sollen, bis über ihren Antrag positiv entschieden ist oder sie abgeschoben werden. "Denn wir wollen ja in den Zentren die Asylverfahren nicht nur schneller, sondern auch sicherer machen", sagte er im ZDF.
Der von ihm angekündigte "Masterplan" asylpolitischer Maßnahmen sei fertig. Er werde ihn "wahrscheinlich in der übernächsten Woche veröffentlichen". Der Bremer Fall zeige, dass die ganze Asyl-Organisation verändert werden müsse. "Ohne Begrenzung (der Zuwanderung) werden wir mit den Problemen nicht fertig werden können."
(Christian Andresen, dpa)
Vermittler und Dolmetscher sollen kassiert haben
Durch die Ermittlungen im Bremer Flüchtlingsamt kommen immer neue Verdachtsfälle und Schlampereien ans Licht. Wie aus internen Emails hervorgeht, hatte ein Asyl-Entscheider der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) im rheinland-pfälzischen Bingen bereits vor Monaten bei Vorgesetzten in Nürnberg Alarm geschlagen, weil ihm die stark vom Bundesdurchschnitt abweichenden Schutzquoten für einige Nationalitäten suspekt erschienen. Ob diese Praxis eher auf Überlastung - Anerkennungen sind für die Mitarbeiter weniger aufwendig als Ablehnungen, die hinterher oft vor Gericht landen - oder auf andere Beweggründe zurückzuführen war, bleibt aber unklar.
Den Aufzeichnungen zufolge erhielten in Bingen zwischen Januar und Oktober vergangenen Jahres 97 Prozent der Iraner Flüchtlingsschutz oder eine Asylanerkennung. 90 Prozent der Antragsteller aus Afghanistan erhielten in der einen oder anderen Form Schutz. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2017 lag die Gesamtschutzquote für Iraner bundesweit bei knapp 50 Prozent. Von den Antragstellern aus Afghanistan erhielten rund 44 Prozent Schutz.
Nicht ganz sauber lief es offensichtlich bei der Schulung neuer Mitarbeiter, die in Asylverfahren zur Prüfung von Ausweisdokumenten eingesetzt werden. Interne Dokumente belegen, dass - womöglich versehentlich - auch Zertifikate für die Teilnahme von Mitarbeitern ausgestellt wurden, die am Tag der Schulung gar nicht anwesend waren.
Die im Zentrum der Affäre stehende Bremer Bamf-Außenstelle darf vorerst keine Asylanträge mehr bearbeiten. Das Amt steht nach Angaben der ermittelnden Staatsanwaltschaft im Verdacht, zwischen 2013 und 2016 mindestens 1200 Menschen ohne ausreichende Grundlage Asyl gewährt zu haben.
Zu den Beschuldigten gehören Anwälte und die ehemalige Leiterin der Außenstelle. Nach Informationen aus dem Bamf-Umfeld sind viele der Bremer Mitarbeiter der Behörde verunsichert und beklagen, sie würden nun unter Generalverdacht gestellt.
Wie aus einem Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Bremen vom 3. April hervorgeht, wird ein unter der inzwischen abberufenen früheren Bamf-Leiterin in Bremen eingesetzter Dolmetscher verdächtigt, von Ausländern, die ihm ein zweiter Beschuldigter vermittelte, 500 Euro dafür erhalten zu haben, dass er "falsche Angaben insbesondere zur Identität und den Einreisedaten aufnahm, beziehungsweise übersetzte".
Der Vermittler soll von den Antragstellern angeblich selbst auch noch 50 Euro kassiert haben. Die Staatsanwaltschaft stützt ihren Verdacht laut Beschluss sowohl auf Erkenntnisse aus Revisionsverfahren des Bamf als auch auf Zeugenaussagen.
Bamf-Präsidentin Jutta Cordt hatte im März 2017 in einem Brief an die langjährige Mitarbeiterin geschrieben, diese habe ohne Grund auch in abgeschlossene Asylverfahren, die nicht in Bremer Zuständigkeit lagen, eingegriffen und diese positiv entschieden. Auch nach Intervention eines Vorgesetzten habe die damalige Amtsleiterin "die beanstandete Verfahrensweise fortgesetzt", heißt es in dem Schreiben.
Das Bamf streitet sich zur Zeit vor Gericht in Bremen mit der Beamtin Josefa Schmid, Nachfolgerin der Beschuldigten. Die ehrenamtliche Bürgermeisterin aus dem bayerischen Kollnburg war von der Nürnberger Bamf-Zentrale im vergangenen Januar als neue Leiterin in die Bremer Außenstelle geschickt worden. Nachdem sie eigene Untersuchungen zu den unrechtmäßig erteilten Asylbescheiden an Vorgesetzte und den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer (CSU), geschickt hatte, musste sie ihren Posten räumen. Nach Darstellung des Bamf hat ihre Versetzung nach Bayern damit aber nichts zu tun. Der Fall beschäftigt aktuell das Oberverwaltungsgericht Bremen.
Die AfD im Bundestag kündigte an, im Juni einen Antrag für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu stellen. Dieser solle sich mit der "Flüchtlingspolitik im weitesten Sinne" befassen, einschließlich der Bamf-Problematik, sagte Fraktionsvize Beatrix von Storch der "Welt am Sonntag". Justizministerin Katarina Barley (SPD) regte an, Asylbescheide stichprobenartig in ganz Deutschland zu überprüfen. Dies könnte helfen, Vertrauen wiederherzustellen, sagte sie der "Bild am Sonntag".
Angesichts der strafrechtlichen Ermittlungen ist eine gemeinsame Ermittlungsgruppe der Zentralen Antikorruptionsstelle und des Landeskriminalamts Bremen mit Unterstützung der Bundespolizei geplant.
Nach Auffassung der Gewerkschaft der Polizei (GdP) sollte die Bundespolizei keine eigenen Ermittlungen anstellen. Zur Begründung sagte der stellvertretende GdP-Vorsitzende (Bezirk Bundespolizei), Sven Hüber, der Deutschen Presse-Agentur: "Die Bundespolizei untersteht dem Bundesinnenministerium. Deshalb sollte sie nicht in einer Behörde wie dem Bamf ermitteln, die diesem Ministerium auch unterstellt ist."
(dpa)
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