„Wir bewegen uns in ernsten Zeiten“ hat Markus Söder bei seiner Wiederwahl zum Bayerischen Ministerpräsidenten am 31. Oktober 2023 erklärt. Dem entspricht die Intonation in der Präambel der Koalitionsvereinbarung mit den Freien Wählern vom 26. Oktober 2023: „Es ist unser Auftrag, unsere freiheitliche demokratische Grundordnung zu schützen – vor Feinden von außen und von innen. Wir treten jeglicher Form von Antisemitismus, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entschlossen entgegen. Im Bewusstsein unserer Geschichte und aus innerster Überzeugung bekennen wir uns zu unserer historischen Verantwortung und den Prinzipien unserer Demokratie.“
Dieses Bekenntnis wurde ausgelöst durch eine unsägliche Flugblattaffäre und demokratiefeindliche Aussagen des Vorsitzenden der Freien Wähler Hubert Aiwanger. Es erinnert daran, dass München im Dritten Reich die Hauptstadt der Bewegung war, Nürnberg die Stadt der Reichsparteitage und der Obersalzberg das zweite Hauptquartier von Adolf Hitler. In Dachau entstand bereits 1933 das erste Konzentrationslager, im KZ Flossenbürg wurde das Konzept der „Vernichtung durch Arbeit“ umgesetzt. Fünf Jahrzehnte lang haben die Grundsatzprogramme der CSU dazu geschwiegen. Erst Edmund Stoiber hat sich Mitte der 1990er Jahre der historischen Verantwortung gestellt: mit einem Staatsvertrag mit der Israelitischen Kultusgemeinde in Bayern, einer bundesweit vorbildlichen Dokumentationsstätte am Obersalzberg zum Nationalsozialismus, dem ersten Besuch eines bayerischen Ministerpräsidenten im Dachauer KZ und der Mitfinanzierung des Israelitischen Kulturzentrums in München. 25 Jahre später hat die Staatsregierung ein Gesamtkonzept zur Erinnerungskultur beschlossen. Es wäre ein starkes Zeichen im Kampf gegen den Antisemitismus, wenn das neue Kabinett in der Dokumentation Obersalzberg oder in einem der anderen Erinnerungsorte tagen würde, um aus dem beispiellosen Zivilisationsbruch Lehren für die Gegenwart zu ziehen, in der es wachsenden Judenhass auch wieder in Deutschland gibt, und die Solidarität Bayerns mit Israel nach dem barbarischen Massaker der Hamas zu bekräftigen.
Die CSU hat sich durchgesetzt
Mit dieser Präambel stellt die CSU auch klar, wer in dieser Koalition Koch und wer Kellner ist. Daran ändert auch die marginale Änderung der Geschäftsverteilung nichts. So finden sich wesentliche Positionen aus dem Regierungsprogramm der Freien Wähler im Koalitionsvertrag nicht wieder, darunter die Beseitigung des Lohnrückstandes der Frauen, die Vergabe von Landesaufträgen nur an Unternehmen mit Tariflohn, die Einführung eines gesetzlichen Bildungsurlaubs, ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild und ein Wahlrecht ab 16 Jahren. So will man offenbar verhindern, dass die Freien Wähler sich weiter zur Volkspartei profilieren können. Allerdings wird so auch die notwendige Öffnung und Modernisierung der CSU verbaut.
Die Koalitionsvereinbarung ist im Wesentlichen ein Kursbuch für ein behäbiges „weiter so“, das auf 85 Seiten viele bekannte Ankündigungen wiederholt und kaum neue Impulse gegenüber dem Papier von 2018 enthält. Und das trotz einer Zeit, die eine andere ist als vor fünf Jahren, die von Kriegen, Wirtschaftskrisen, Klimawandel und wachsendem Extremismus geprägt ist. Der rote Faden für die wesentlichen Handlungsfelder ist: „Wir gehen den Weg der Freiwilligkeit konsequent weiter.“ Damit bekennt sich die Koalition zu einer neoliberal inspirierten Politik, die in populistischer Manier nur das tut, was der Mehrheit gerade gefällt. So soll zum Beispiel die soziale Kluft zugunsten der Besitzenden durch Abschaffung des Solidaritätszuschlags und der Erbschaftssteuer für Immobilien und Betriebsvermögen weiter vertieft werden, eine rigorose Schuldenbremse wird als wichtiger erachtet als notwendige Investitionen in einer außergewöhnlichen Notsituation, und unseren Kindern und Enkeln soll es überlassen bleiben, die Kosten für eine vernachlässigte Infrastruktur und Umwelt zu bezahlen. Bezeichnend ist auch, dass weder das Gemeinwohl, die soziale Marktwirtschaft oder die Gewerkschaften in der umfangreichen Vereinbarung Erwähnung finden. Immerhin ist positiv zu verbuchen, dass der hybride Kulturkampf gegen demokratische Minderheiten, der nur den Parteien rechts von der CSU genützt hat, nicht Eingang in das Koalitionspapier gefunden hat. Woke, vegan und gendern, die noch das kurzlebige Grundsatzprogramm und den konfrontativen Wahlkampf der CSU geprägt haben, spielen keine Rolle mehr. Jetzt geht es um die wahren Probleme für den Freistaat, beginnend mit der Energieversorgung.
Aufholjagd bei erneuerbaren Energien
Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist die Schicksalsfrage schlechthin für den Wirtschaftsstandort Bayern und damit für den Wohlstand des Landes. Wie schon 2018 vereinbart, soll Bayern bis 2040 klimaneutral werden. Dazu müsste man bis dahin jede Woche 2800 Solardächer und Solar-Freiflächen von mindestens 50 Fußballfeldern, zwei neue Windkraft-Anlagen von jeweils 5,5 Megawatt, einen Batteriespeicher mit drei Megawatt pro Stunde Speicherkapazität in zwei Schiffscontainern und rund 1000 neue E-Autos in Betrieb nehmen. So die bayerische Energiewirtschaft. Kein Wunder, dass Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger die Erreichung dieser Ziele schon vor dem Wahltag in Frage gestellt hat.
Bis 2030 sollen zu den bisher rund 1300 Windrädern weitere 1000 dazukommen. Eine staatliche Gesellschaft namens „Bayern Wind“ soll es richten, dass Bayern nicht mehr Schlusslicht bei der Windkraft ist. Und das, obwohl die prohibitive Abstandsregel von 2014 grundsätzlich weiter gilt und in diesem Jahr nur sechs neue Anlagen aufgestellt wurden. Sehr ehrgeizig ist auch das Ziel, die Stromerzeugung aus Photovoltaik bis 2030 zu verdreifachen. Dabei ist eine Solarpflicht für Neubauten wie in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein oder gar für Bestandsgebäude wie in Baden-Württemberg in Bayern nicht vorgesehen, lediglich der Ausbau auf staatseigenen Gebäuden.
Bayern soll auch das führende Wasserstoffland in Deutschland werden. Dafür soll unter anderem eine vom Autor in dieser Zeitung vorgeschlagene Wasserstoff-Pipeline von der Adria über Österreich nach Bayern geschaffen werden. (siehe BSZ vom 11.04.2022) Insgesamt will die Koalition in den nächsten Jahren 700 Mio. Euro in die Nutzung von Wasserstoff investieren. Das Wasserstoffzentrum in Nürnberg ist dabei ein wichtiges Leuchtturmprojekt. Allerdings sind andere Bundesländer bei der Umsetzung schon weiter: So hat Niedersachsen mit der Umrüstung von Erdgasnetzen auf Wasserstoff begonnen und Sachsen hat das erste wasserstofffähige Kraftwerk in Betrieb genommen.
Stillstand beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen
Bayern war einst Vorreiter im Umwelt- und Naturschutz. Nachzulesen in Artikel 141 der Bayerischen Verfassung. Heute sieht es anders aus: Bei der Versiegelung der Böden ist Bayern bundesweit führend. Der Flächenverbrauch soll nun bis 2030 halbiert werden. Vorgesehen sind jedoch nur freiwillige Maßnahmen, die schon bisher erfolglos waren. Auch das Ziel, 55.000 Hektar Moorfläche in Bayern bis 2040 wieder zu vernässen, soll auf diese Weise verfolgt werden. Die von Ministerpräsident Söder bereits 2019 versprochene Halbierung des Pestizideinsatzes bis 2028 findet sich im Koalitionsvertrag nicht wieder. Das gilt auch für das Ziel, bis 2030 mindestens 30 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche in Bayern ökologisch zu bewirtschaften. Maßnahmen gegen die Massentierhaltung und zur Verbesserung des Tierwohls werden jetzt „entschieden“ abgelehnt. Als Beitrag zum Artenschutz soll das Vertragsnaturschutzprogramm bis 2028 von 180.000 auf 200.000 Hektar ausgeweitet werden – gerade mal um zwei Prozent pro Jahr. Der noch von Horst Seehofer geplante dritte Nationalpark wird endgültig aufgegeben. Beim Wasserschutz will Bayern als letztes Bundesland endlich einen Wassercent einführen. Doch nur beim Wasser soll der Grundsatz „Kommunal vor Kommerz“ gelten und jede Form der Privatisierung ausgeschlossen werden. Bei Boden, Luft, Pflanzen und Tieren gilt hingegen weiterhin: „Kommerz vor Natur.“
Auf der Suche nach Fachkräften
Die Suche nach qualifizierten Arbeitskräften für Industrie, Handwerk und Dienstleistung wird im Vertrag zu Recht als eine der drängendsten Herausforderungen bezeichnet. Die Koalition will „gemeinsam mit Unternehmen und Betrieben“ alle Anstrengungen unternehmen, um qualifizierte Fachkräfte auszubilden, aus dem In- und Ausland anzuwerben und passgenau und unbürokratisch in Arbeit zu vermitteln. Die Gewerkschaften werden hier ebenso wenig einbezogen wie beim geplanten Dialog zur Zukunft der Arbeit. Das war bei Edmund Stoiber noch anders, der in seiner erfolgreichen Zukunftsoffensive einen Beschäftigungs- und Ausbildungspakt zwischen Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften geschlossen und ein Gesetz zur Tariftreue im Freistaat eingeführt hat. Bis 2009 wurden öffentliche Aufträge nur an tarifgebundene Unternehmen vergeben, wie es jetzt die Freien Wähler erfolglos gefordert haben. Heute ist Bayern ist dank der Tarifflucht der Arbeitgeber Schlusslicht bei der Tarifbindung in den westdeutschen Ländern und neben Sachsen das einzige Bundesland ohne Tariftreuegesetz. Das bedeutet geringere Löhne, weniger Urlaub und Weihnachtsgeld und schlechtere Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer.
Dabei sieht auch die Bayernkoalition gute und familienfreundliche Arbeitsbedingungen sowie faire Bezahlung als Schlüssel im Kampf gegen den Fachkräftemangel. Umso unverständlicher ist, dass sie nichts gegen Tarifflucht, Niedriglöhne und prekäre Arbeit unternehmen will. Weder fordert sie mehr Tariflöhne noch die Beseitigung des Lohnrückstands für Frauen. In der Koalitionsvereinbarung von 2018 hieß es noch: Wir wollen die gleiche Bezahlung für Frauen und Männer. Seither gibt es öffentliche Aufträge nur für Unternehmen, die sich dazu verpflichten. Das hat freilich nichts daran geändert, dass Bayern mit einer Lohnlücke von 18 Prozent und einem Rentenrückstand von 25 Prozent für Frauen heute bundesweit nach wie vor Schlusslicht ist, obwohl Landes- und Bundesverfassung den Staat verpflichten, die Gleichberechtigung auch tatsächlich durchzusetzen. Die bayerische Verfassung fordert sogar ausdrücklich, dass Männer und Frauen für gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhalten. Der Freistaat ist verpflichtet, diese Vorgabe endlich auch für die Arbeitsverträge in der Privatwirtschaft durchzusetzen.
Bildung für alle Schüler?
Ministerpräsident Söder nennt die Bildung einen besonders wichtigen Schwerpunkt. Es überrascht daher, dass das Schulressort weiterhin den Freien Wählern überlassen wird und noch dazu ohne Staatssekretär auskommen muss. Bis 2028 will die Koalition 9.000 neue Stellen im Schulbereich schaffen: 6.000 neue Lehrerstellen und 3.000 neue Stellen für Unterstützungskräfte. Ob sie dann auch qualifiziert besetzt werden können, ist eine ganz andere Frage. Die Behauptung, dass der Freistaat bei der Bezahlung im Ländervergleich schon jetzt einen Spitzenplatz einnimmt, ist schlichtweg falsch. In acht Bundesländern werden Grundschullehrer bereits seit 2021 nach A 13 bezahlt, in vier weiteren geschieht dies in den nächsten drei Jahren. In Bayern soll diese Eingangsbesoldung für Lehrkräfte an Grund- und Mittelschulen erst schrittweise bis 2028 eingeführt werden.
Unerklärlich ist auch, dass die Koalition Schüler aus sozial schwachen Familien nicht stärker fördern will. Bayern nimmt hier selbst nach dem Ranking der neoliberalen Lobby-Organisation „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ nur den drittletzten Platz bundesweit ein. Sowohl bei den Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren wie auch bei den Grundschülern gehört Bayern bei der Ganztagsbetreuung zu den Schlusslichtern. Mit der Ankündigung, bis 2028 rund 180.000 neue Plätze schaffen zu wollen, davon 50.000 für Kinder unter sechs Jahren und 130.000 für Grundschüler, ist es nicht getan. Auch hier stellt sich die Frage, wie man die notwendigen qualifizierten Kräfte gewinnen will. Vor allem wäre es an der Zeit, sich um gravierende strukturelle Defizite zu kümmern. Nach den Feststellungen des ifo-Instituts sind nach wie vor Bildungsstand und Einkommen der Eltern ausschlaggebend für die Bildungschancen. Wenn Kinder in Bayern „oberste Priorität“ haben und „unser größter Schatz“ sind, wie es im Vertrag heißt, dann kann es nicht sein, dass die soziale Herkunft über den künftigen Lebensweg entscheidet.
Armut im reichen Bayern
„Wir gehen entschlossen gegen alle Formen der Armut vor“, verkündet die Bayern-Koalition. Endlich wird eingeräumt, dass auch im reichen Bayern Kinder, Arbeitnehmer, Frauen und alte Menschen arm oder armutsgefährdet sind. Besonders betroffen sind ältere Menschen. Wie das Statistische Bundesamt feststellt, ist der Anteil der in Bayern von Armut bedrohten über 65-Jährigen von 17 Prozent in 2013 auf heute 18,5 Prozent für Männer und 24,5 Prozent für Frauen angestiegen. Damit liegt Bayern bundesweit an der Spitze.
Doch als Maßnahme gegen diese Missstände verweist die Koalition nur auf Tafeln, Tische und die Bahnhofsmission. Das Bürgergeld lehnt sie ebenso ab wie zuvor einen angemessenen Mindestlohn. Diese soziale Kälte ist mit unserer Verfassung nicht vereinbar. Die in Artikel eins des Grundgesetzes verankerte unantastbare Menschenwürde verpflichtet den Staat, ein menschenwürdiges Existenzminimum sowohl in physischer als auch in soziokultureller Hinsicht sicherzustellen. Leistungsfeindlich ist nicht das existenzsichernde Bürgergeld, sondern eine zu geringe Entlohnung, die ein Leben in Anstand und Würde verhindert.
Das ist auch mit der christlichen Soziallehre unvereinbar, auf die sich die CSU gerne beruft. Papst Pius XI. hat in seiner Enzyklika Quadragesimo Anno 1931 zu den Prinzipien von Subsidiarität und Solidarität auch postuliert: „An erster Stelle steht dem Arbeiter ein ausreichender Lohn für seinen und seiner Familie Lebensunterhalt zu.“ Dieser originären Pflicht kommen die Arbeitgeber jedenfalls bei mittleren und unteren Einkommen nicht nach, so dass der Staat mit familienpolitischen Leistungen aushelfen muss. Diese sind letztlich Subventionen an die Arbeitgeber - in Bayern derzeit 4,1 Milliarden Euro.
Freie Fahrt für freie Bürger
Die Bayernkoalition lehnt ausdrücklich ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen ab, das es in allen anderen zivilisierten Staaten der Welt gibt. Während die CSU sich sonst an der Mehrheit ausrichtet, tritt sie hier für den Spaß am schnellen Fahren einer kleinen Minderheit ein, obwohl zwei Drittel der Bevölkerung ein Tempolimit befürworten. Das Vergnügen weniger ist ihr wichtiger als alle rationalen und ethischen Argumente. In der Pandemie galt noch: “Jeder Tote ist einer zu viel“. Und beim Klimaschutz: „Jedes Fitzelchen zählt.“ Doch weder 2000 in den letzten 20 Jahren sinnlos auf unseren Autobahnen Gestorbene noch mögliche Einsparungen von über sechs Millionen Tonnen CO2 pro Jahr sind offenbar wichtig genug. Auch das Votum des Deutschen Verkehrssicherheitstages und der Deutschen Verkehrswacht für ein Tempolimit hat daran nichts geändert. Vor 50 Jahren hatte der ADAC das Motto „Freie Fahrt für freie Bürger erfunden“. Als der Verein mit seinen über 20 Millionen Mitgliedern im Januar 2020 seinen Widerstand gegen ein Tempolimit aufgegeben hat, stellte sich der CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer sofort dagegen mit dem bemerkenswerten Argument, ein Tempolimit sei „gegen jeden Menschenverstand.“ Es fällt sehr schwer, keine Satire zu schreiben.
Der Kampf um die Demokratie
Zurück zur Präambel. Die Koalition hat sich dem Kampf um die Demokratie verschrieben gegen alle inneren und äußeren Feinde, die sie zerstören wollen. Das ist vor allem eine Kampfansage an die zunehmend rechtsextreme AfD. Die Wahlanalyse in Bayern zeigt, dass die Wähler dieser Partei vorwiegend aus niedrigen Bildungsstufen und der Arbeiterschaft stammen. Daher soll vor allem die Schule als Ort der Demokratie- und Wertevermittlung gestärkt werden. Die Einführung einer Verfassungs-Viertelstunde ist ein guter Ansatz. Ebenso, dass jeder Schüler im Laufe der Schulzeit mindestens eine KZ-Gedenkstätte oder eine vergleichbare Einrichtung der Erinnerungskultur besuchen soll.
Darüber hinaus sollte aber auch die politische Bildung der Arbeitnehmer ausgebaut werden, um ihr Verständnis für gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge zu verbessern und die Mitverantwortung in Staat, Gesellschaft und Beruf zu fördern. Arbeitnehmer sollten auch in Bayern endlich einen Anspruch auf Bildungsurlaub für die berufliche und politische Weiterbildung erhalten, wie er schon in 14 anderen Bundesländern besteht und auch im Wahlprogramm der Freien Wähler stand. Dazu sollte sich die Koalition wieder auf den sozialen Kitt der Gewerkschaften für die Arbeitswelt besinnen. Dass Bayern dank der massiven Tarifflucht der Arbeitgeber heute Schlusslicht bei der Tarifbindung in Westdeutschland ist, trägt zur wachsenden Bindungslosigkeit in der Gesellschaft bei.
Mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut und Ungleichheit ist ein weiterer Ansatz, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Wer Wähler von der AfD zurückgewinnen will, muss sich verstärkt um die sozial Schwachen kümmern. Seit dem Ende der 1990er Jahre ist auch in Bayern die soziale Kluft durch Niedriglöhne und prekäre Arbeit gewachsen. Corona und Inflation haben sie weiter verschärft. Dass Kinder aus sozial schwachen Familien im reichen Bayern geringere Zukunftschancen haben, ist in jeder Hinsicht untragbar. Wenn der Sozialstaat zum Charity-Staat mutiert, braucht man sich nicht zu wundern, dass die Betroffenen sich von ihm abwenden.
Materielle Einschränkungen und das Gefühl geringer Anerkennung führen bei vielen Betroffenen zu einer erheblichen Distanz zu staatlichen und politischen Institutionen: Mehr als die Hälfte der Armen hat nur wenig Vertrauen in Parteien und Politiker. Rund ein Drittel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße. Das zeigen jüngste Untersuchungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Die wachsende Distanz der Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien zu den Alltagssorgen der Menschen, wie sie Sigmund Gottlieb in seinem Buch „So nicht“ beschreibt, macht sich die AfD zunutze. Ihr Narrativ ist, das sich die „da oben“ nicht für die „normalen“ Menschen und ihre Anliegen interessieren. Sie gibt vor, alle Menschen mit Daseins-, Abstiegs- und Zukunftsängsten ernst zu nehmen und sich um ihre Sorgen und Nöte zu kümmern. Sie gaukelt ihnen einfache Lösungen für komplexe Probleme vor, die letztlich den Interessen der betroffenen Menschen zuwiderlaufen.
Das betrifft neben Inflation und Armut vor allem die Einwanderung. Hier punktet die AfD mit der Lüge, dass die Ausländer Ursache aller Probleme in Deutschland seien. Anstelle rationaler Argumente werden nationalistische Ressentiments geschürt. Es ist gut, dass sich die Bayernkoalition in der Migrationsfrage auf ein Bündel pragmatischer Maßnahmen und Forderungen verständigt hat. Ein Überbietungswettbewerb der demokratischen Parteien mit plakativen Scheinlösungen würde nur der AfD helfen. Dass es schon am 8. November 2023 zu einem Konsens zwischen Bund und Ländern gekommen ist, bietet die Chance, die illegale Immigration deutlich zu reduzieren und die Integrationsfähigkeit unseres Landes zu wahren. Damit könnte der aktuelle Asylkonsens, wie schon der Asylkompromiss von 1993 dazu beitragen, eine rechtsradikale Bewegung – damals die Republikaner, heute die AfD – in die Schranken zu weisen. Wenn er denn nicht aus parteitaktischen Gründen zerredet wird.
(Rudolf Hanisch)
(Der Beitrag stammt vom Autor des Buches „CSU in der Krise – eine Volkspartei am Scheideweg“. Er war 2005 bis 2009 Vorstandsvize der BayernLB und zuvor unter Ministerpräsident Edmund Stoiber Staatskanzleichef.)
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