Bernhard Stiedl, Landeschef des Bayerischen Gewerkschaftsbunds, fordert im BSZ-Interview eine weit höhere Lohnuntergrenze und ein bayerisches Tariftreuegesetz. Unternehmen, die Dumpinglöhne zahlen, sollten nicht mit Staatsaufträgen belohnt werden.
BSZ: Herr Stiedl, Sie sind Katholik, daher die Frage: Haben Sie die Beisetzung des Papstes verfolgt?
Bernhard Stiedl: Ja, ich habe die Beisetzung von Papst Franziskus verfolgt. Auch die Wahl des neuen Papstes habe ich mit Interesse beobachtet. Der alte Pontifex stand für eine Umverteilung des Reichtums und auch sein Nachfolger Leo XIV. setzt sich für die Bekämpfung der Armut ein.
BSZ:Die Kirchen sind längst vom früheren gesellschaftspolitischen Gegner zum Verbündeten der Gewerkschaften geworden – sei dies bei der Beibehaltung der Feiertage oder mehr sozialer Gerechtigkeit. Wie eng sind die Kontakte in Bayern?
Stiedl: Wir sind schon länger in regelmäßigem Austausch, etwa zu sozialen Fragen oder zum Schutz des freien Sonntags. Wir setzen große Hoffnungen in den neuen Papst. Er steht mit dem Namen Leo in Tradition zum „Arbeiterpapst“ Leo XIII., der mit seiner Sozialenzyklika Rerum novarum Antworten auf die sozialpolitischen Fragen der damaligen Zeit gegeben hat. Wir hoffen, dass auch Papst Leo XIV. soziale Themen aufgreifen wird.
BSZ: Gibt es auch Trennendes?
Stiedl: Natürlich sind wir nicht in allem einer Meinung, lehnen als Gewerkschaften etwa das eigene Arbeitsrecht der Kirchen, den sogenannten Dritten Weg, ab. Aber grundsätzlich verbindet Kirchen und Gewerkschaften in sozialen Fragen mehr als uns trennt.
BSZ: Die Wirtschaft steht unter immensen Druck, Jobs in der Industrie gehen verloren – die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie seit 16 Jahren nicht mehr. Wirken Forderungen nach einer niedrigeren Arbeitszeit da nicht wie aus der Zeit gefallen?
Stiedl: Wenn weniger Arbeit da ist, muss man die Arbeitszeit der Beschäftigten reduzieren, damit genug Arbeit für jeden da ist. Generell ist die Länge der Arbeitszeit nicht das Problem der deutschen Wirtschaft. Die Probleme sind andere: Trumps Zölle, der Krieg in der Ukraine, die hohen Energiepreise oder die fehlenden Innovationen in den Betrieben aufgrund ausbleibender Investitionen. Die Arbeitgeber führen eine Scheindebatte, wenn sie von der Streichung von Feiertagen sprechen. Sie wollen damit auch von ihren eigenen Fehlern ablenken. Eine solche Maßnahme wird dem Standort Deutschland jedenfalls nicht helfen.
"Wenn die Beschäftigten weniger verdienen, schadet das unserer Volkswirtschaft"
BSZ: „Eine Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich steht aktuell nicht auf der gewerkschaftlichen Forderungsliste“, sagte kürzlich IG Metall Chefin Benner. Wie stehen Sie zur verkürzten Arbeitswoche?
Stiedl: Keine Mitgliedsgewerkschaft im DGB fordert derzeit eine Vier-Tage-Woche. Diese kann aber durchaus praktikabel und richtig sein. Viele Menschen haben Probleme, die Kinderbetreuung oder die Pflege eines Angehörigen mit der Arbeit unter einen Hut zu bekommen. Da ist eine Vier-Tage-Woche oder ein flexibles Arbeitszeitmodell, das den Beschäftigten mehr Zeit für die Familie einräumt, sinnvoll.
BSZ: Apropos Familienfreundlichkeit. Tarifgebundene Firmen sind hier oft vorbildlich. Doch 2022 waren nur noch knapp ein Viertel aller Betriebe und etwa die Hälfte aller Beschäftigten an einen Tarifvertrag gebunden. Wie lässt sich der Negativtrend stoppen?
Stiedl: Diese Entwicklung sollte nicht nur Gewerkschaften aufschrecken. Tarifgebundene Betriebe sind in der Regel deutlich erfolgreicher als andere Firmen. Vielen Arbeitgebern wissen gar nicht, wie flexibel Tarifverträge sein können. Ein Problem ist die von den Arbeitgeberverbänden vor Jahren geschaffene Möglichkeit, Verbandsmitglied zu sein, ohne an einen Tarifvertrag gebunden zu sein. Das hat fatale Auswirkungen. Immer weniger Betriebe zahlen zum Beispiel noch Urlaubs- oder Weihnachtsgeld. Wenn die Beschäftigten weniger verdienen, schadet das unserer Volkswirtschaft. Wir haben hierzulande ohnehin eine viel zu geringe Nachfrage, sind stark vom Export abhängig – bricht der Weltmarkt wie zuletzt ein, rächt sich das. Mehr Unternehmen, die Tariflöhne zahlen, würden unseren Binnenmarkt stärken. Und noch einmal: Die Probleme unseres Standorts hängen nicht mit den Lohnkosten oder der Arbeitszeit zusammen.
BSZ: Wäre ein Tariftreuegesetz sinnvoll? Ein solches Gesetz regelt, dass öffentliche Aufträge nur noch an tariftreue Firmen vergeben werden dürfen. Bayern ist neben Sachsen das letzte Bundesland, in dem es kein Vergabegesetz gibt.
Stiedl: Wir begrüßen das Vorhaben der Bundesregierung, gesetzlich zu regeln, dass öffentliche Aufträge des Bundes nur noch an Unternehmen vergeben werden, die nach Tarif zahlen. Letztlich führt an einem Tariftreuegesetz auch auf bayerischer Ebene kein Weg vorbei. So schreibt auch die Europäische Union ihren Mitgliedsstaaten vor, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Tarifbindung unter 80 Prozent fällt. Das Tariftreuegesetz kann eine solche Maßnahme sein. Es darf nicht sein, dass von Steuergeldern Firmen profitieren, die Dumpinglöhne zahlen. Wir gehen davon aus, dass der Freistaat nun ebenfalls ein Tariftreuegesetz einführen wird – schließlich hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder als CSU-Chef den Koalitionsvertrag in Berlin unterzeichnet, der ein solches auf Bundesebene vorsieht.
BSZ: Bleiben wir bei staatlichen Interventionen: Welche Hoffnungen setzen sie auf das 500-Milliarden-Infrastrukturprogramm? Wird das Geld die deutsche Wirtschaft ankurbeln und die marode Infrastruktur in Schwung bringen?
Stiedl: Da haben wir sehr große Hoffnungen. Es muss dringend in Brücken, Straßen, Schienen und Schulen investiert werden. Und wenn ein so ambitioniertes Programm die Wirtschaft nicht ankurbelt, würde ich die Welt nicht mehr verstehen. Das Geld muss unbedingt auch in die Förderung von neuen Technologien fließen. Dies hat Deutschland in den vergangenen Jahren ein Stück weit vernachlässigt. Nun sind die Arbeitgeber gefragt, Innovationen auch zu ermöglichen.
"Senkung der Stromsteuer ist sinnvoll"
BSZ: Ein Problem wird auch das Schuldenpaket nicht lösen: Die teuren Energiekosten für die Industrie. In der Chemie-, Papier- oder Stahlbranche gingen bereits viele Jobs verloren. Was müssen Bund und Freistaat unternehmen? Im großen Stil Gaskraftwerke bauen, wie geplant?
Stiedl: Das ist der falsche Weg. Gaskraftwerke können nur eine Übergangstechnologie sein. Wenn der Bund nun wieder in fossile Energieträger investiert, wird sich das eines Tages bitterböse rächen, da fossile Energie in Zukunft immer teurer werden wird. Stattdessen sollte die Politik den Ausbau der erneuerbaren Energien noch schneller vorantreiben. Die geplante Senkung der Stromsteuer um 5 Cent ist dagegen eine sinnvolle Maßnahme, um die extrem hohen Energiepreise zu dämpfen. Das würde nicht nur energieintensive Firmen, sondern auch die Privathaushalte spürbar entlasten.
BSZ: Statt in Soziales soll nun mehr Geld in Rüstung fließen? Ein sinnvoller Schritt?
Stiedl: Es ist wichtig, dass eine Demokratie wehrhaft ist. Dabei darf das Soziale aber nicht vergessen werden. Wenn dafür bei Gesundheit oder Rente gespart wird, werden das die Bürger auf Dauer nicht hinnehmen. Wir brauchen sowohl Investitionen in die innere und äußere Sicherheit als auch in die soziale Sicherheit der Menschen.

BSZ: Apropos soziale Sicherheit. Der Mindestlohn liegt derzeit bei 12,82 Euro. Kann man davon im teuren Münchner Speckgürtel Leben?
Stiedl: Nein, überhaupt nicht. Der Mindestlohn gehört kräftig erhöht. Wenn man ehrlich ist, sind selbst die von der Regierungskoalition mittelfristig angepeilten 15 Euro noch viel zu wenig. Wer in München eine 60 Quadratmeter große Wohnung hat, zahlt ja oft schon über 1500 Euro Miete. Der Mindestlohn müsste auch im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit erhöht werden. Denn rund zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. Mit niedrigen Löhnen ist auch Altersarmut vorprogrammiert.
"Wo bleibt denn der Beitrag der Millionäre und Milliardäre? Es bräuchte endlich eine gerechte Besteuerung großer Erbschaften"
BSZ: An welche Höhe denken Sie?
Stiedl: Klar ist: Bei 15 Euro darf nicht Schluss sein. Wir müssen wegkommen von der „Geiz ist Geil“-Mentalität. Wir waren doch noch nie wegen niedriger Löhne stark, sondern aufgrund unserer Innovationen. Da müssen wir wieder hinkommen.
BSZ: Angesichts unterschiedlicher Lebenshaltungskosten in München und Greifswald: Wäre ein regionaler Mindestlohn nicht die bessere Lösung, um im Osten keine Jobs zu vernichten?
Stiedl: Das wäre der falsche Weg. Arbeit ist im Osten genauso viel wert wie im Westen. Ja, es ist richtig, dass durch den Mindestlohn die Lohnkosten steigen. Aber man muss schauen, in welchen Bereichen das der Fall ist. In der Industrie ist der Anteil der Lohnkosten an den Gesamtkosten gering. Im Sozialbereich gilt das nicht. Aber die Pflege älterer Menschen und die Erziehung unserer Kinder müssen der Gesellschaft mehr wert sein. Denn das Geld ist ja da. Es ist nur falsch verteilt. Wo bleibt denn der Beitrag der Millionäre und Milliardäre? Es bräuchte endlich eine gerechte Besteuerung großer Erbschaften und eine Vermögensabgabe für Reiche.
"Wir stellen uns gegen jede Form von Ausgrenzung, Rechtsextremismus und Hetze"
BSZ: Trump und andere Nationalisten kosten in Deutschland Arbeitsplätze. Dennoch ist ausgerechnet die durch ein arbeitnehmerfeindliches Programm auffallende AfD plötzlich die neue Arbeiterpartei. 38 Prozent stimmten bei der Bundestagswahl laut Infratest für diese. Was können die Gewerkschaften dem Aufstieg der in Teilen rechtsextremen Partei entgegensetzen?
Stiedl: Wir setzen stark auf Aufklärung: Wir klären auf, wie unsozial die AfD ist. Sie hat gegen die Erhöhung des Mindestlohns gestimmt und würde mit ihrem Rentenplan dafür sorgen, dass die meisten Menschen später in Rente gehen können. Zudem steht die Partei für einen Abschottungskurs und unterstützt Trump, was unserer Wirtschaft und den Interessen der Beschäftigten schadet. Wir entlarven die AfD mit ihrer arbeitnehmerfeindlichen Politik – und das durchaus mit Erfolg: Bei den gewerkschaftlich Organisierten hat der Anteil der AfD-Wähler zuletzt abgenommen.
BSZ: Doch noch immer dürften auch nicht wenige Mitglieder mit der rechten Partei sympathisieren. Wie gehen die Gewerkschaften mit ihnen um?
Stiedl: Wie gesagt: Uns geht es um Aufklärung. Solange die AfD nicht verboten ist und es in einer Gewerkschaft keinen Unvereinbarkeitsbeschluss gibt, ist es nicht verboten, in dieser Partei Mitglied sein. Allerdings stehen wir Gewerkschaften für eine offene, solidarische und demokratische Gesellschaft. Deshalb stellen wir uns jeder Form von Ausgrenzung, Rechtsextremismus und Hetze entschieden entgegen. Die AfD widerspricht diesen Grundwerten nicht nur inhaltlich, sondern vertritt auch eine Politik, die gezielt die Rechte von Beschäftigten schwächt, Tarifbindung infrage stellt und soziale Sicherheit abbaut. Wer solche Positionen vertritt, stellt sich gegen alles, wofür wir als Gewerkschaften stehen – und dagegen werden wir weiter unmissverständlich Stellung beziehen.
(Interview: Tobias Lill)
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