Eine Reihe von Corona-Maßnahmen schränkt zum Schutz der gesamten Bevölkerung die Grundrechte der Menschen ein. Solche Schritte sind umstritten. Die Gratwanderung kann deshalb bis vor die höchsten Gerichte juristisch überprüft werden. Diese Möglichkeit für alle Bürger hält der Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Hans-Joachim Heßler, für ein hohes Gut.
Frage: Wie erklären Sie Menschen, was ein Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs macht?
Hans-Joachim Heßler: Die Frage kommt oft: Was macht ein Landesverfassungsgericht eigentlich? Es gibt doch auch das Bundesverfassungsgericht. Dann erläutere ich zum Beispiel gern, dass die Bayerische Verfassung älter ist als das Grundgesetz. Und dass wir für staatsrechtliche Fragen in Bayern das oberste Gericht sind.
Frage: Sie sind jetzt rund drei Monate in diesem Amt und zudem auch neuer Präsident des Oberlandesgerichts München. Was hat Sie bei der Doppelaufgabe am meisten überrascht?
Heßler: Im Grunde war ich ja gut vorbereitet. Unter anderem bin ich seit zehn Jahren Richter des Verfassungsgerichtshofs. Aber die Fülle der Aufgaben in beiden Ämtern, das überrascht dann doch wieder. Und im Moment sind natürlich schwierige Zeiten, weil die Corona-Pandemie uns in der gesamten Justiz viele Entscheidungen abverlangt.
Frage: Wie beraten Sie sich am Verfassungsgericht und wie treffen Sie die Entscheidungen? Ist das jetzt wegen Corona alles per Video?
Heßler: Nein. Der Verfassungsgerichtshof kann gerade bei Popularklagen von der mündlichen Verhandlung absehen, wenn er diese nicht für geboten erachtet. Aber eine Beratung der Spruchgruppe in Präsenz findet immer statt. Dafür treffen wir uns in einem großen Saal unter Beachtung der Corona-Auflagen. Allgemein schätze ich mündliche Verhandlungen sehr - sie sind in der Justiz das "Salz in der Suppe".
Frage: Wie viele Klagen in Sachen Corona beschäftigen Sie derzeit?
Heßler: In Bayern kann man jede landesrechtliche Rechtsvorschrift mit einer Popularklage anfechten - davon ist viel Gebrauch gemacht worden. Wir hatten vor Corona etwa 20 Popularklagen pro Jahr. 2020 sind 121 neue Popularklagen eingegangen, davon waren allein 106 "Corona-Verfahren". Und dieses Jahr ist es ähnlich weitergegangen. Das sprengt also alles, was wir bisher hatten.
"Die Verfahren sind grundsätzlich kostenfrei"
Frage: Können auch einfache Bürger ohne Anwalt die Hürden nehmen, dass eine solche Klage zugelassen wird?
Heßler: Ja. Anders als bei vielen Fachgerichten gibt es beim Verfassungsgerichtshof keinen Anwaltszwang. Die Verfahren sind grundsätzlich kostenfrei.
Frage: Wenn eine Sache besonders dringend ist, kann man bei Ihnen Eilanträge einreichen. Gegen die Corona-Maßnahmen gab es viele davon. Warum braucht eine vorläufige Entscheidung dennoch rund zwei Wochen?
Heßler: Zu Corona-Verfahren haben wir seit Beginn der Pandemie etwa zwei Dutzend Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz getroffen. Auch solche Eilentscheidungen müssen sorgfältig vorbereitet werden; insbesondere ist dem Landtag und der Staatsregierung in der Regel Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der Berichterstatter fertigt einen Entwurf. Es muss eine Beratung mit neun Berufsrichtern aus ganz Bayern anberaumt werden, in der dieser Entwurf eingehend besprochen wird. Da sind zehn bis 14 Tage durchaus sportlich.
Frage: Wie sehen Sie die Gratwanderung der Verfassungsgerichte zwischen Gesundheitsschutz und der Einschränkung der Grundrechte?
Heßler: Ein solches Spannungsverhältnis besteht grundsätzlich bei vielen staatlichen Maßnahmen, aber in der Pandemie wird das besonders deutlich. Es heißt ja gerne: In Krisenzeiten schlägt die "Stunde der Exekutive". Gerade am Anfang musste von der Politik schnell gehandelt werden. Im Zuge der Pandemie wurde die Diskussion natürlich intensiver. Man wusste von Woche zu Woche mehr und hat auch Wege gefunden, die Parlamente einzubinden. Ob bestimmte Maßnahmen verfassungsgemäß sind oder nicht, entscheidet die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht von sich aus, sondern nur auf zulässige Anträge hin. Hinzu kommt: Ein Verfassungsgericht schreibt grundsätzlich nicht vor, welche Maßnahmen aus seiner eigenen Sicht zu ergreifen wären - das ist eine Entscheidung der Exekutive beziehungsweise des Gesetzgebers mit einem Einschätzungsspielraum. Das Gericht prüft vielmehr nur, ob sich eine Maßnahme innerhalb der verfassungsmäßigen Grenzen hält oder nicht. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.
"Bürger haben Vertrauen in Rechtsstaat"
Frage: Krasse Kritiker wie etwa Verschwörungstheoretiker sagen: Die Gerichte segnen nur ab, was die Politik beschlossen hat. Was würden Sie solchen Leuten entgegnen?
Heßler: Ich würde ihnen sagen, dass wir zum Glück in einem Staat leben, in dem es nicht nur Diskussionen im Parlament gibt, sondern auch weitreichende Möglichkeiten für jedermann, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen. Das tun die Bürger ja auch, wie man an den zahlreichen Klagen an verschiedenen Gerichten sieht. Daran kann man auch erkennen, dass sie Vertrauen in den Rechtsstaat haben. In diesem Sinne kommt also nach der Stunde der Exekutive die Stunde der Judikative.
Frage: Ist Präsident des Verfassungsgerichtshofs Ihr Traumjob?
Heßler: Ja, das finde ich schon. Es ist natürlich eine große Herausforderung, wie sich gerade auch jetzt zeigt. Aber die Gerechtigkeitsfrage hat mich schon immer interessiert - und das ist die Stelle, wo das am deutlichsten zum Ausdruck kommt.
Frage: Als Präsident des Verfassungsgerichtshofs ist man ja nicht gerade ein Revoluzzer. Wann haben Sie das letzte Mal gesagt, das machen wir jetzt ganz anders?
Heßler: "Revoluzzerhafte" Züge habe ich wahrscheinlich in der Tat nicht. Persönlich bin ich aber nicht so, dass ich immer alles bewahren will. Auch in der Rechtsprechung eines Verfassungsgerichts gibt es natürlich eine gewisse Kontinuität, das heißt man fragt danach, was das Gericht bisher entschieden hat. Manchmal kann man da aber an einen Punkt kommen, wo man erkennt: An diese oder jene Frage hat der Gesetzgeber nicht gedacht. Dann müssen Sie als Gericht einen Schritt tun - und etwas anders machen.
(Interview: Roland Freund, Britta Schultejans, Christoph Trost, dpa)
Info: Hans-Joachim Heßler
Der 63-Jährige ist in München geboren und studierte dort auch. Seine Karriere begann er 1985 im bayerischen Justizministerium. Von 2018 bis 2021 stand er an der Spitze des Bayerischen Obersten Landesgerichts. Seit Oktober 2021 ist er Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs und zugleich des Oberlandesgerichts München. Heßler ist ledig und lebt mit seinem langjährigen Lebensgefährten zusammen. Wenn ihn Beruf oder Corona nicht hindern, besucht er Oper, Theater und Konzerte oder er spielt Tennis, fährt Ski und verreist gern.
Zum Verfassungsgerichtshof: Er ist Bayerns oberstes Gericht in staatsrechtlichen Fragen. Neben den Popularklagen der Bürger ist er für Verfassungsbeschwerden zuständig sowie unter anderem für Streitigkeiten zwischen obersten Staatsorganen oder Anklagen des Landtags gegen ein Mitglied der Staatsregierung oder des Landtags. Der Präsident wird vom Landtag auf acht Jahre aus dem Kreis der drei Präsidenten der Oberlandesgerichte Bamberg, Nürnberg und München gewählt. Traditionell erhält die Doopelfunktion meist der Münchner Präsident. Mit Erreichen des Ruhestands endet das Amt automatisch.
(dpa)
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!