Politik

In Bayern gibt es ein flächendeckendes Beratungsnetz für Schwangerschaftsfragen. Beratung allein jedoch hilft nicht aus materieller Not. (Foto: dpa/Murat)

12.05.2023

Das Ja zum Kind wird schwerer

Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche steigt stark an – warum ist das so?

Enorme Preissteigerungen, der Ukraine-Krieg, der Klimawandel – all das macht jungen Frauen schwer zu schaffen. „Ich habe Angst vor der Zukunft“, ist eine Aussage, die Beraterinnen im Schwangerschaftskonfliktgespräch immer öfter hören. Möglicherweise ist dies auch ein Grund dafür, dass die Zahl der Abtreibungen 2022 deutschlandweit um fast 10 Prozent auf 104 000 Fälle in die Höhe schnellte.

2015: Damals ging es den Menschen vergleichsweise gut. Die Reallöhne und damit die Kaufkraft stiegen im Vergleich zum Vorjahr um satte 2,4 Prozent. Seitdem geht es abwärts. Wie das Statistische Bundesamt soeben bekannt gab, sanken die Reallöhne 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 4 Prozent. Das ist der stärkste Reallohnverlust seit 2008.

Margarete Folwaczny, Leiterin der Münchner Beratungsstelle „Frauen beraten“, bekommt dieses Phänomen hautnah mit. „Oft äußern Frauen bei uns, dass sie sich ein Kind einfach nicht leisten können“, sagt sie. Und es könnte alles noch viel schlimmer werden.

Viele Ängste

Ängste sind irrational. Das betrifft die Angst vor einer Ausweitung des Krieges ebenso wie Ängste in Bezug auf den Klimawandel. Von Letzterem lassen sich manche junge Frauen schwer beeindrucken. Margarete Folwaczny weiß von Rechenexperimenten, wie viel CO2 ein Kind verbraucht. So hatten schwedische Fachleute 2017 veröffentlicht, dass jedes nicht geborene Kind jährlich 59 Tonnen CO2 spart. So etwas, betont sie, kann ungewollt Schwangere beeinflussen. Immer mehr junge Frauen, die ungewollt schwanger wurden, zerbrechen sich über diese Frage den Kopf.

Das weiß auch Sylvia Pohl, Leiterin der Beratungsstelle Donum Vitae in Fürstenfeldbruck. „Durch Corona, den Krieg in der Ukraine, die Umweltbelastungen, den Klimawandel und die Verteuerung sind die Unwägbarkeiten beängstigender denn je“, sagt die Sozialpädagogin. Materielle Sorgen nähmen zu. Dazu geselle sich die Angst, den Job zu verlieren und den Lebensstandard nicht mehr halten zu können.

Nicht nur die Wirtschaft erweist sich als störanfällig, sondern auch der Staat. „Wir erleben hier in Fürstenfeldbruck, dass Frauen keinen Kinderbetreuungsplatz erhalten, somit nicht arbeiten und nichts zum Familieneinkommen beitragen können“, schildert Sylvia Pohl. Ein komplettes staatliches Versagen ist in Bezug auf die Wohnungspolitik zu konstatieren. „Wir kennen hier in München Familien, die zu sechst in einem Zimmer leben“, sagt ihre Kollegin Margarete Folwaczny. Wird die Frau neuerlich schwanger, sorgt das in diesen Familien für einen regelrechten Schock. Fast zwangsläufig führt der Weg dann in die Konfliktberatung. Eine Wohnung zu finden, wurde ja bereits als aussichtslos erlebt.

Frauen, die in materieller Sicherheit leben, verirren sich seltener zu Margarete Folwaczny und ihren Kolleginnen. Das Gros der Ratsuchenden lebt in prekären Umständen.

Neu im vergangenen Jahr waren Frauen aus der Ukraine, die geplant schwanger geworden sind und dann flüchten mussten. Da sie nicht wissen können, ob ihr Mann an der Front überleben wird, erschien es ihnen, angekommen in Deutschland, undenkbar, das Kind auszutragen. Überhaupt ist der Anteil der Migrantinnen in der Konfliktberatung hoch. 943 Erstberatungen gab es 2022 bei „Frauen beraten“ in München. 530 Ratsuchende hatten keinen deutschen Pass. In fast 100 Beratungsfällen war die Herkunft unbekannt.

Dass Familien, die sich mit einem Teilzeitjob durchschlagen müssen oder wo einer der Partner erwerbslos ist, enorme Probleme auf dem Wohnungsmarkt haben, bekommt man auch bei Pro familia in Würzburg mit. „Die Wohnungsnot ist dramatisch“, bestätigt Beraterin Ursula Schwesinger. Ein großes Thema im vergangenen Jahr, in dem die Abbruchzahlen derart nach oben geschnellt sind, war nach ihren Worten aber auch die Corona-Politik. Etliche Mütter stresste es ungemein, Homeoffice und Homeschooling miteinander verbinden zu müssen: „Diese Zeit haben viele Frauen als sehr belastend und als sehr prägend erlebt.“

Nachfrage nimmt zu

Spiegelbildlich zu den 2022 stark gestiegenen Abbruchzahlen nahm die Nachfrage nach Beratung bei Pro familia zu. Unterfrankenweit unterhält die Organisation drei Beratungsstellen in Aschaffenburg, Schweinfurt und Würzburg. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 758 Frauen im Schwangerschaftskonflikt erstmals beraten. 2021 lag die Zahl bei 672.

Auch in Bayern sind die Abbrüche im Übrigen gestiegen. Von 10 000 Frauen haben im Jahr 2021 42 abgetrieben, im Jahr 2022 waren es 45 Frauen. Dennoch habe Bayern die niedrigste Abbruchquote aller Bundesländer. Der bundesweite Durchschnitt liegt laut Sozialministerium bei 62 Abbrüchen je 10 000 Frauen. Das Ministerium räumt ein, dass Überforderung und Zukunftsängste häufige Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch sind.

Was man dagegen unternehme? Bayern, teilt das Ministerium mit, fördere ein dichtes Netz von Angeboten, um werdende Mütter und Väter zu unterstützen. Mit 128 staatlich anerkannten Beratungsstellen für Schwangerschaftsfragen stehe in Bayern ein flächendeckendes Beratungsangebot zur Verfügung. Beratung allein jedoch hilft nicht aus materieller Not.

Die Berliner Ampel hat in ihre Koalitionsvereinbarung den Satz geschrieben: „Wir wollen Familien stärken.“ Mit Blick auf die hohen Abtreibungszahlen kann festgestellt werden: An diesem Ziel ist man bisher weit vorbeigeschrammt. (Pat Christ, dpa)
 

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Soll man die AfD verbieten?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
X
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.