Politik

Glücklich, wer schon älter ist und ins Büro darf: In bayerischen Klassenzimmern stehen wegen Corona trotz Minusgraden die Fenster offen. (Foto: dpa/Frank May)

04.12.2020

"Das Kultusministerium hat gepennt"

Bayerns Schülervertreter Joshua Grasmüller über analoge Schulen, kalte Klassenzimmer, spickende Lehrkräfte und die Corona-Maßnahmen der Staatsregierung

Joshua Grasmüller vertritt als Koordinator des Landesschülerrats (LSR) die Interessen von 1,7 Millionen Schülerinnen und Schülern in Bayern. Er kritisiert, dass es auch neun Monate nach Beginn der Corona-Krise kein ausreichendes Konzept gibt – weder für den digitalen Unterricht noch für den Infektionsschutz der Kinder und Jugendlichen.

BSZ: Herr Grasmüller, Bund und Länder haben vereinbart, wegen Corona die Weihnachtsferien dieses Jahr um fünf Tage vorzuverlegen. Sind Sie begeistert?
Joshua Grasmüller: Ich denke, diese kurzfristige Maßnahme soll eher von Versäumnissen der letzten Monate ablenken. Wir sind nämlich immer noch an demselben Punkt wie zu Beginn der Krise: Es fehlen die Voraussetzungen für den digitalen Unterricht und es gibt kein Lüftungskonzept, das über das Öffnen von Fenstern hinausgeht. Bei den aktuellen Minusgraden müssen die Schülerinnen und Schüler gerade mit Wintermantel, Mütze, Schal, Decke und einer Thermoskanne Tee im Unterricht sitzen. Manche Lehrkräfte lassen die Fenster sogar konstant offen.

BSZ: Erst für ein Prozent der insgesamt 80 000 Klassen in Bayern wurden Luftreiniger beantragt. Warum nur so wenig?
Grasmüller: Das würden wir auch gern wissen. Die Staatsregierung teilte uns mit, sie hätte die nötigen finanziellen Mittel für die Sachaufwandsträger, also die Kommunen, bereitgestellt. Uns ist es salopp gesagt wurst, wer die Luftfilter oder die zusätzlichen Schulbusse bezahlt – Hauptsache, es tut sich endlich was.

BSZ: Um die Ansteckungsgefahr in überfüllten Schulbussen zu reduzieren, hat die Staatsregierung im Oktober immerhin 15 Millionen Euro bereitgestellt. Macht sich das nicht bemerkbar?
Grasmüller: Es wurde bei den Bussen viel auf den Weg gebracht, aber in den seltensten Fällen umgesetzt. Als Hauptargument hören wir immer: Die Busunternehmen können die Kapazitäten nicht erhöhen, weil ihnen schlicht die Busse fehlen. Wir fordern daher, zusätzlich den Unterrichtsbeginn zu ändern. Also die Schule nicht um acht Uhr für alle beginnen zu lassen, sondern gestaffelt. So ließe sich die Situation auch mit begrenzten Buskapazitäten entzerren.

BSZ: Zuerst hieß es, Schulen sind keine Treiber der Pandemie. Jetzt müssen in Bayern selbst Grundschüler eine Maske tragen.
Grasmüller: Für uns ist es unverständlich, warum vor allem der Schulbetrieb so kontrovers diskutiert wird. Wir mussten schon Masken tragen, als das in den Staatsministerien, öffentlichen Gebäuden oder Büros noch nicht verpflichtend war. Dabei sollten Erwachsene doch Vorbild sein. Grundsätzlich würden wir uns wünschen, dass die Maskenpflicht an Schulen für Bayern nicht zentral geregelt würde. Schulen, die große Klassenzimmer oder Luftfilter haben, könnten dann individuell entscheiden. Das gilt besonders für Grundschulen, wo die Lehrkräfte ja einen besonderen pädagogischen und sozialen Auftrag haben.

"Die eine Hälfte der Klasse muss in Quarantäne, die andere nicht. Wo ist da die Logik?"

BSZ: Im Herbst mussten ganze Klassen in Quarantäne, die Geschwisterkinder durften aber weiter zur Schule. Jugendliche aus Hotspots durften nicht in die Berufsschule, aber in den Lehrbetrieb. Verstehen Sie das?
Grasmüller: Nein. Es gab sogar Klassen, in denen Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Landkreisen unterrichtet wurden. Wurde ein Schüler aus Landkreis A positiv getestet, mussten alle Mitschüler aus diesem Landkreis in Quarantäne, während die Schüler aus Landkreis B weiter unterrichtet wurden. Die regionalen Gesundheitsämter sind sich oft nicht einig, wie man mit dem Infektionsgeschehen umgehen soll. Immerhin sollen Klassen jetzt nur noch fünf Tage in Quarantäne und nach einem negativen Schnelltest zurück in den Unterricht. Wir müssen aber auch hier erst abwarten, ob das in der Praxis funktioniert.

BSZ: Schon vor Corona sind bis zu zwölf Prozent des regulären Unterrichts ausgefallen. Jetzt sind zusätzlich viele Lehrkräfte in Quarantäne oder gehören zur Risikogruppe. Wie viele Stunden können aktuell überhaupt stattfinden?
Grasmüller: Genaue Zahlen haben wir bisher nicht. Ich vermute aber, dass aktuell sehr viel mehr ausfällt als in den letzten Schuljahren. Nicht nur wegen Corona, sondern weil es generell einen eklatanten Lehrermangel an Schulen gibt. Zwar haben wir nicht die Situation wie in Berlin, wo inzwischen schon Quereinsteiger, also überspitzt gesagt zum Beispiel gelernte Maurer, Mathematik unterrichten. Wir brauchen aber dringend mehr Lehrkräfte – und zwar solche, die pädagogisch ausgebildet und in ihrem Fach kompetent sind.

BSZ: Nur rund die Hälfte der Schulen in Bayern hat eine Internetverbindung, die schneller als 16 Mbit/s ist. Über 10 000 Klassenzimmer haben überhaupt keinen Internetanschluss. Nicht die besten Voraussetzungen für Distanzunterricht.
Grasmüller: Wir hatten in Bayern schon vor Corona digitale Vorreiterschulen und solche, die Arbeitsblätter im ersten Lockdown per Post verschickt haben. Oft hängt es davon ab, ob die Schulleitung oder einzelne Lehrkräfte digital affin sind oder nicht. Zwar gab es nach der ersten Welle für die Lehrerinnen und Lehrer Online-Kurse. Häufig hingen die Lösungen für den Abschlusstest aber in den Lehrerzimmern aus. Was bringen Whiteboards in den Klassenzimmern, wenn sie von den Lehrkräften als Tafel benutzt werden? Hier braucht es dringend mehr Soft-Skills-Schulungen.

BSZ: 36 Prozent der Schulen in Bayern haben keine digitalen Endgeräte für Schüler*innen. Was bedeutet das für Kinder aus einkommensschwachen Familien?
Grasmüller: Dass sie nicht die gleiche Bildung erfahren wie Kinder, deren Eltern sich ein Tablet leisten können. Sie haben im ersten Lockdown die Aufgaben per Post oder E-Mail bekommen, während die anderen per Videokonferenz unterrichtet wurden. Und das im Jahr 2020! Selbst wenn es Leihgeräte gibt, sind die häufig nicht mehr auf dem aktuellen Stand der Technik. Oberstes Ziel sollte es daher sein, den Präsenzunterricht so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Sonst entsteht ein gewaltiger Spalt zwischen den Schülern aus Familien mit mehr und denen mit weniger Einkommen.

BSZ: Die Staatsregierung hat diese Woche den Abiturtermin verschoben und plant das auch für andere Abschlussprüfungen. Reicht das als Corona-Nachteilsausgleich?
Grasmüller: Ich bin froh, dass dieses Schuljahr mit etwas mehr Weitblick geplant wird. Statt aber die Prüfungen immer nur weiter nach hinten zu verschieben, sollten die Schwerpunkte der Klausuren anders gewichtet werden. Sprich: Das, was wegen der Schulschließungen nur im Homeschooling unterrichtet wurde, sollte nicht so stark abgefragt werden wie die Themen, die im Präsenzunterricht durchgenommen wurden. Das wäre wirklich fair.

BSZ: Der LSR hat sein Büro im Kultusministerium. Da haben Sie doch den direkten Draht zu Minister Michael Piazolo (Freie Wähler). Was sagt er zu Ihrer Kritik?
Grasmüller: Unsere Verbesserungsvorschläge werden zwar immer angehört, aber leider nur in den seltensten Fällen umgesetzt. Generell haben wir das Gefühl, das Ministerium hat ein wenig gepennt: Nach den Schulschließungen im Frühjahr wurde zu wenig evaluiert und zu wenig vorausgeplant. Zumindest sind uns keine öffentlichen Konzepte vorgelegt worden, wie Schülerinnen und Schüler auf die kommenden Zeiten vorbereitet werden. Das wäre beruhigend gewesen, da viel Angst und Unsicherheit herrschen.

BSZ: Sind Sie froh, im Frühjahr Ihr Abitur geschafft zu haben und nicht mehr zur Schule zu müssen?
Grasmüller: Ja, aber das wäre ich auch ohne Corona gewesen (lacht). Dennoch waren die Abifeier und der erste Sommer ohne Schule natürlich mit vielen Einschränkungen verbunden. Viele meiner ehemaligen Mitschüler konnten nicht reisen, im Ausland studieren oder ihr Freiwilliges Soziales Jahr antreten. Ich versuche aber das Ganze positiv zu sehen und hoffe, dass Corona die Themen Digitalisierung und zwischenmenschliches Zusammenleben auf ein neues Level hebt und die Schule dadurch für die zukünftigen Generationen zu einem besseren Ort wird. (Interview: David Lohmann)

Kommentare (1)

  1. Schlawiner99 am 04.12.2020
    Das Kultusministerium - ein Trauerspiel. Ich bin als Amtsvormund für 25 Kinder im schulpflichtigen Alter verantwortlich. Genau 1 (!) Schüler hat bislang ein Leihgerät erhalten! Wo sind die im Sommer versprochenen 50.000? Viele meiner Mündel leben in Heimen. Auch die Jugendämter weigern sich mit Händen u Füßen, Geräte zur Teilnahme am Fernunterricht zu finanzieren. Ergo: keine Teilhabe an Bildung für diese Kinder, die Opfer von Vernachlässigung, Misshandlung oder gar Missbrauch wurden oder Waisen sind. Trauriges Bayern!
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