Als Michael Hoderlein-Rein vor elf Jahren aus dem Kultusministerium an die Münchner Grundschule Berg am Laim wechselte, endete der Schulunterricht dort noch zur Mittagszeit. Drei Jahre später führte Hoderlein-Rein den Ganztagsunterricht ein. „Wir haben das nicht getan, weil es politisch gewollt war“, erzählt er. „Auch nicht, weil wir Pädagogen das für sinnvoll hielten. Sondern schlicht, weil es unsere Kinder brauchten.“ Sinnvoll sei der Ganztagsunterricht immer dann, wenn Kinder zu Hause weniger gut gefördert werden können, sagt Hoderlein-Rein. „Und das kommt überall vor, in allen Stadtteilen, in allen Schichten.“
Die Schüler, die an die Grundschule Berg am Laim gehen, können individuelle Förderung allerdings besonders gut brauchen: Über 70 Prozent der Kinder haben Migrationshintergrund, viele erhalten Sozialleistungen, die Mütter sind häufiger alleinerziehend als anderswo. „Wir wollen, dass all diese Kinder ihre Potenziale ausschöpfen“, sagt Hoderlein-Rein. Die Schüler gehen darum mittags nicht nach Hause, sondern in die Mittagsbetreuung oder ins Tagesheim, in den Hort oder eine heilpädagogische Einrichtung. Oder sie besuchen den gebundenen Ganztag.
Objektiv messen können die Lehrer zwar nicht, dass ihre Schüler von den längeren Unterrichtstagen mehr profitieren als vom Regelunterricht. Aber, so Hoderlein-Rein, danach sieht es einfach aus. Weil alles so gut läuft, hat seine Schule für das engagierte Ganztagsangebot 2015 den Schulpreis der Landeshauptstadt München gewonnen.
Der Ganztag, eine pädagogische Erfolgsgeschichte, jetzt auch in Bayern? Die Staatsregierung präsentiert Zahlen, die zu beweisen scheinen: Es geht voran. 5650 offene Ganztagsgruppen gibt es im Schuljahr 2016/2017 – über 1200 mehr als im Vorjahr; an rund 1000 Schulen wurden mehr als 4000 gebundene Ganztagsklassen eingerichtet, erklärt das Kultusministerium. Der Ausbau sei „bedarfsgerecht“ und spiegele die Nachfrage vor Ort wider. Die Opposition dagegen murrt. Bayern ist laut Bertelsmannstudie 2017 weiterhin Schlusslicht beim Ganztag. Während in Hamburg 88 Prozent und in Sachsen 80 Prozent der Schüler eine Ganztagsschule besuchten, sind es im Freistaat nur 15 Prozent.
Ganztag soll nicht heißen: Nur im Klassenraum sitzen
Darum fordert die bayerische SPD, was die Bertelsmannstiftung seit Jahren vorschlägt: einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Ganztagsschule. „Die Eltern haben sich in der Kindergartenzeit daran gewöhnt, dass ihre Kinder ganztags gut aufgehoben sind und wünschen sich passgenaue Angebote auch von den Schulen“, sagt Simone Strohmayr, Fraktionsvize der Landtags-SPD. Um den Ausbau der Ganztagsschule zu beschleunigen, fordert die SPD ein Sonderinvestitionsprogramm: Schulen sollen umgebaut und erweitert werden können, „damit die Kinder im Ganztag nicht nur im Klassenzimmer sitzen“. Nicht nachvollziehbar sei außerdem, warum die verschiedenen Betreuungsmodelle für den Nachmittag unterschiedlichen Qualitätsbedingungen folgten.
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) unterstützt die Forderung der SPD, einen Rechtsanspruch auf einen Platz in der Ganztagsschule einzurichten. „Häufig heißt es, die Lehrer wollen den Ganztag nicht“, sagt Simone Fleischmann. „Aber das ist nicht wahr. Wir Lehrer wollen das, was für die Kinder gut ist.“ Sie kritisiert, dass die Regierung jede in den Nachmittag reichende Betreuung gleich Ganztagsschule nennt. So versuche der Ministerpräsident, „einen Haken zu setzen unter sein gegebenes Versprechen: den Ausbau der Ganztagsschule“. Der BLLV macht sich vor allem für die gebundene Ganztagsschule stark. Pädagogen gilt diese als Königsweg, weil der Unterricht über den Tag rhythmisiert werden kann.
Der BLLV unterstützt aber zugleich die offenen Ganztagsangebote. Und: Auch die Lehrer und Lehrerinnen wollen den Eltern die Wahl lassen zwischen verpflichtenden Stunden am Nachmittag und freien Angeboten – ein zentrales Anliegen der Staatsregierung. Denn Fleischmann weiß: Es gibt Gebiete und Haushalte in Bayern, in denen die Mütter für die Kinder kochen und sie bei den Hausaufgaben begleiten wollen. Darum favorisiert sie „passgenaue, regionale Modelle“. Denn es mache keinen Sinn, Eltern von etwas zu überzeugen, das diese nicht haben wollen.
Kritik äußert Fleischmann an den finanziellen Rahmenbedingungen des Ganztags. Sie selbst hat sich mit der Anni-Pickert-Grund- und Mittelschule in Poing, deren Leiterin sie damals war, an dem Modellversuch Ganztagsschule beteiligt. „Der Bedarf war da, die Eltern wollten das.“ 19 zusätzliche Lehrerstunden erlaubten eine qualitativ hochwertige, individuelle Förderung. Nach Ende des Modellversuchs blieben für den gebundenen Ganztag allerdings nur 12 zusätzliche Lehrerstunden übrig. Zu wenig, findet die Pädagogin. Denn vor allem jüngere Kinder, die den ganzen Tag in der Schule verbringen, dort spielen, schlafen, leben, brauchen sehr viel Zuwendung.
Private Schulen haben das längst begriffen. Sie leisten sich kleine Klassen und ein dichtes, professionelles Netz an Lehrern und Betreuern und bieten zugleich genug Platz für Spaß und Spiel – Verhältnisse, von denen Pädagogen an öffentlichen Schulen nur träumen können.
Michael Hoderlein-Rein von der Grundschule Berg am Leim mahnt: „Die Schulen müssen mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet werden.“ Und er ist überzeugt: „Wenn mehr Ganztagsangebote vorhanden sind, fragen die Eltern sie auch nach.“ Der Bedarf, so die These, entsteht mit dem Angebot. Seine Kollegin Siglinde Schweizer von der Dr. Theo Schöller-Mittelschule in Nürnberg geht noch einen Schritt weiter. Sie ist eine überzeugte Anhängerin des Ganztags. Ihre Schule bietet sogar gebundenen Ganztag für Übergangsklassen an. „Wenn ich politisch zu entscheiden hätte, würde ich den Ganztag an allen Mittelschulen einführen“, sagt sie.
Was den Schulen allerdings derzeit vor allem fehlt, sind nicht zusätzliche Nachmittagsstunden. Sondern nach wie vor: die Lehrer. (Monika Goetsch)
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