Die deutsche Politik steht vor einem historischen Umbruch der Parteienstruktur. Eine neue konservative Partei löst bereits zwölf Jahre nach ihrer Gründung die Union in Umfragen als stärkste politische Kraft ab. Bundesweit erreicht sie 27 Prozent, in Bayern 24, nur noch neun Punkte hinter der CSU. Weder der gemeinsame Kulturkampf gegen Grüne und Linke noch die nationale Migrationswende haben sich für die programmatisch ausgezehrte Union ausgezahlt. Die Strategie des Wandels durch Annäherung an zentrale Positionen der neoliberalen und nationalistischen AfD ist krachend gescheitert. Die Union sollte sich wieder auf die Inhalte christlicher und sozialer Politik besinnen, will sie nicht spätestens 2029 zum Juniorpartner der Blauen werden.
Noch nie in der Historie der Bundesrepublik hat es eine derart große und rasche Veränderung in der Parteienlandschaft gegeben. Die erst 2013 als euroskeptische und wirtschaftsliberale Partei gestartete AfD ist schon vier Jahre später mit 12,6 Prozent in den Deutschen Bundestag eingezogen und hat nach weiteren acht Jahren im Februar 2025 20,8 Prozent erreicht. Ihr Höhenflug geht auch nach der Abwahl der Ampel ungebrochen weiter. Das Politbarometer sieht sie am 19. September 2025 mit 26 Prozent auf gleicher Höhe mit der Union, bei Forsa liegt sie bereits mit 27 Prozent auf Platz eins. Es findet eine Wachablösung im konservativen Lager statt: Die Union, die 76 Jahre lang allein und unangefochten den Konservatismus in Deutschland vertreten hat, hat erstmals eine Konkurrenz im bürgerlichen Lager bekommen, die ihre Macht bedroht. Die AfD entwickelt sich von einer Protestpartei zu einer Volkspartei, trotz ihrer Einstufung als rechtsextremistisch. Dass es so gekommen ist, hat die Union weitgehend selbst zu verantworten. Sie hat sich nach der Jahrtausendwende von der erfolgreichen christlich und sozial ausgerichteten Politik entfernt, die mit der Westbindung und der sozialen Marktwirtschaft alle wesentlichen Entscheidungen für den Wiederaufbau geprägt hat.
Die neoliberale Wende
Im Jahr 2000 begann mit der Gründung der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft durch die Arbeitgeberverbände die neoliberale Wende in Deutschland. Mit dem von Angela Merkel 2001 vorgelegten Grundsatzpapier der CDU zur „neuen Sozialen Marktwirtschaft“ wurde sie offiziell zur Leitlinie der Wirtschaftspolitik der Union. Friedrich Merz hat in seinem Buch „Mehr Kapitalismus wagen“ während der Finanzkrise das Adjektiv „sozial“ sogar als überflüssig bezeichnet, da der Markt allein schon für soziale Verhältnisse Sorge trage. Binnen eines Jahrzehnts hat die Union viele Elemente ihres Markenkerns abgegeben und so den Raum geöffnet für den Aufstieg einer konservativen Konkurrenzpartei: 2011 wurde die Wehrpflicht als Rückgrat der nationalen Sicherheit ausgesetzt und im gleichen Jahr die Kernkraft als Lebensader der Wirtschaft aufgegeben für billiges Gas aus Russland. Entgegen allen Warnungen der USA, aus Polen und dem Baltikum, aber auch aus der Union, hat sich Deutschland auch nach der Annexion der Krim 2014 immer stärker vom Imperialisten Putin abhängig gemacht. Arbeitslosen wurde 2011 und 2016 das Existenzminimum verfassungswidrig entzogen, während die Erbschaftsteuer 2009 und 2016 so geregelt wurde, dass die Erben von Milliardenvermögen nur noch 0,1 Prozent zahlen müssen, wie die Bundesbank feststellt. Die Austeritätspolitik gemäß der 2009 ins Grundgesetz aufgenommenen nationalen Schuldenbremse hat fatale Folgen für die nationale Sicherheit und die Infrastruktur des Landes ausgelöst. Eine treibende Kraft bei diesen Entscheidungen war die CSU unter Horst Seehofer.
Die konservative Konkurrenz
Seehofer gab der AfD damals auch das Kernthema, das ihren Erfolg fortan prägen sollte, indem er 2016 die Migration zur „Mutter aller Probleme“ erklärte und die Willkommenskultur der Kanzlerin als „Herrschaft des Unrechts“ brandmarkte. Ein Jahr später zog mit der AfD erstmals eine konservative Konkurrenzpartei in den Deutschen Bundestag ein. Die Union steht seither vor dem Dilemma, wie sie mit ihr umgehen soll. Alexander Dobrindt zählte sie 2018 zum bürgerlichen Lager und forderte, auf die linke Revolution der Eliten sollte eine konservative Revolution der Bürger folgen. Bundesgenosse oder Erzfeind, das ist die Frage, für die es noch immer keine definitive Antwort in der strategisch verunsicherten Union gibt. Zwar hat sich Friedrich Merz bei seinem Amtsantritt als CDU-Parteichef im Dezember 2021 für eine Abgrenzung zur AfD entschieden: „Mit mir wird es eine Brandmauer zur AfD geben“. Dennoch hat er anderthalb Jahre später eine gemeinsame Arbeit mit dieser Partei im Bereich der Kommunen für möglich erklärt, was er anderntags wieder zurückgenommen hat. Seither ist unklar, was das Narrativ von der Brandmauer überhaupt bedeutet. Markus Söder hat es 2023 noch so definiert: "Wir sind ganz klar gegen jede Form der Kooperation mit der AfD, egal ob auf europäischer, auf Bundes-, auf Landes- oder gar auf kommunaler Ebene". Auch das hat die Union nicht daran gehindert, sich der AfD mit gemeinsamem Handeln, Übernahme von Inhalten und populistischer Anbiederung zu nähern und so eine rechtsextreme Partei zu normalisieren.
Die Potemkinsche Brandmauer
2013 begann eine direkte Zusammenarbeit der EVP von Manfred Weber mit der europäischen Rechten beim Kampf gegen das EU-Gesetz zur Renaturierung. Auf Bundesebene beschlossen Union und AfD im Januar 2025 verschärfte Migrationsregeln, obwohl Friedrich Merz wenige Tage zuvor erklärt hatte, er werde niemals mit der rechtsextremen Partei gemeinsame Sache machen. Inhaltlicher Konsens mit der AfD besteht darüber hinaus vor allem beim neoliberalen Wirtschaftsmodell und beim utilitaristischen Menschenbild, dem Primat der Reichen und dem Nachrang des Klimaschutzes. Im spalterischen Kulturkampf gegen Linke, Grüne und Minderheiten, gegen Migranten, Wokeness, Vegane, Heizungshammer, Bürgergeld und Gendern, stehen Union und AfD auch nach dem Ampel-Aus unvermindert Seite an Seite.
Die Union am Scheideweg
Das alles hat der AfD genützt und die programmatisch ausgezehrte Union weiter geschwächt. Warum sie die Lektion aus dem historischen Debakel bei der Landtagswahl 2018 vergessen hat: „Du kannst ein Stinktier nicht überstinken“, ist unverständlich. Was der Politologe Thomas Biebricher 2022 in seinem Buch zur „Geistig-moralischen Wende“ über die Erschöpfung des deutschen Konservatismus beschrieben hat, bestätigt die Konrad-Adenauer-Stiftung in einer Studie vom 18. September 2025: Jeglicher Versuch, eine Partei wie die AfD durch Annäherung zu „zähmen“, schadet konservativen Parteien der Mitte. Die AfD lässt sich nicht mehr „wegregieren“, erst recht nicht, wenn man Versprechen bricht wie die Stromsteuer-Entlastung für alle, die 5,4 Milliarden Euro kosten würde, dafür aber zehn Milliarden an Wahlgeschenken für die Klientel der CSU ausgibt. Das stärkt nur die politischen Ränder, stellt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm, selbst CSU-Mitglied, fest.
So bleibt trotz eines Anstiegs der Zurückweisungen und der Abschiebungen von Migranten der Zuwachs der AfD ungebrochen, denn sie fordert Null Zuwanderung und millionenfache Remigration. Die Strategie eines Wandels durch Annäherung und Anbiederung an die AfD ist krachend gescheitert. Kopiert die Union weiterhin den rechten Rand, wird sie weiter verlieren. Spätestens 2029 könnte sich für sie wie für die ÖVP in Österreich die Frage stellen, Juniorpartner in einer Koalition mit den Blauen zu werden. Will sie das nicht, sollte sie die AfD nicht weiter kopieren, sondern eine christliche und soziale Alternative bieten. Denn die AfD ist keine christliche und soziale, sondern eine gottlose und neoliberale Partei, die das Land spalten will, und die größte Gefahr für die Demokratie seit dem Nationalsozialismus.
Eine christliche und soziale konservative Wende
So sollte sich die Union wieder vom Neoliberalismus lösen, der mit dem Christentum unvereinbar ist, weil er Markt, Nutzen und Profit über den Menschen, seine Würde und die Schöpfung stellt. Vor allem bei den Themen Migration, Klimaschutz und Sozialstaat bedarf es stattdessen christlicher und sozialer Politik.
Die Kirche fordert die Bekämpfung der Fluchtursachen sowie Schutz und humane Behandlung für Migranten und Flüchtlinge als Teil der christlichen Grundgebote der Nächstenliebe und der Menschenwürde. Sie befürwortet eine europäische Lösung anstelle rechtswidriger nationaler Maßnahmen, wie sie die europafeindliche und inhumane AfD vorgibt. Auch beim Klimaschutz sollte die CSU aufhören, gemeinsam mit dieser Partei, die den menschengemachten Klimawandel leugnet, das Ende des Green Deal und des Lieferkettengesetzes zu fordern. Das christliche Gebot zur Bewahrung der Schöpfung verlangt ebenso wie das Grundgesetz, den Schutz vor Umweltzerstörung, Kinderarbeit und Sklavenlöhnen nicht als bürokratisches Hindernis abzutun.
Der AfD ist es gelungen, zur neuen Arbeiterpartei zu werden, weil sie die Migranten zu Sündenböcken für Zukunfts- und Abstiegsängste der kleinen Leute erklärt, um die sich SPD und Union nicht mehr gekümmert haben. Das Wählerreservoir ist groß: Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor Europas, ein Rentenniveau, das mit 48 Prozent weit unter dem EU-Durchschnitt von 70 Prozent liegt, und mit 42 Prozent eine der geringsten Quoten für Wohneigentum. Die AfD wird weiter Zulauf bekommen, solange die Union den Arbeitnehmern wider besseres Wissen mangelnden Fleiß vorwirft, obwohl sie hierzulande ebenso 40 Wochenstunden in Vollzeit arbeiten wie im EU-Durchschnitt, und ihnen soziale Kürzungen androht, anstatt ihre Sorgen aufzunehmen und ihre Lage zu verbessern. Stattdessen verschont sie Reiche und Superreiche, obwohl die Ungleichheit der Vermögen nach dem Gini-Index hierzulande europaweit am Höchsten ist: Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt rund 30 Prozent des deutschen Privatvermögens, die untere Hälfte dagegen nur zwei Prozent.
Nicht nur die Kirche fordert, die Kluft zwischen arm und reich zu verringern. Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung, auch die Mehrheit der Unionsanhänger, sind für eine Vermögensteuer, höhere Einkommensteuern für Millionäre und angemessene Erbschaftsteuern für Superreiche. Jetzt hat auch der Fraktionsvorsitzende der Union, Jens Spahn, die ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland beklagt, weil bei Aktien, Immobilien und Erbschaften das Vermögen fast von alleine wächst, bei Arbeitslöhnen nicht. Diese Erkenntnis könnte zusammen mit den bereits im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen wie höherer Mindestlohn, mehr Tarifbindung und Steuerentlastungen für kleine und mittlere Einkommen sowie Schließung der Lohnlücke für Frauen und den Osten Deutschlands, einen Kurswechsel hin zu einer sozial gerechteren Wirtschafts- und Sozialpolitik einleiten, der unsere Gesellschaft wieder zusammenführt und die AfD entbehrlich macht. Hoffentlich ist es nicht schon zu spät.
(Rudolf Hanisch)
(Der Beitrag stammt vom Autor des Buches „CSU in der Krise – eine Volkspartei am Scheideweg“. Er war 2005 bis 2009 Vorstandsvize der BayernLB und zuvor unter Ministerpräsident Edmund Stoiber Staatskanzleichef.)
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