Politik

12.07.2019

Die Nazi-Szene ist noch stärker

Ein Jahr NSU-Urteil: Ein Kommentar von Florian Sendtner

Vor einem Jahr, am 11. Juli 2018, wurde im Münchner NSU-Prozess nach 438 Verhandlungstagen das Urteil gesprochen. Im öffentlichen Bewusstsein ist der Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds (zehn Morde, drei Bombenanschläge, 15 Raubüberfälle) damit abgehakt. Anders sieht es bei den Hinterbliebenen der Opfer aus. Nebenkläger-Vertreterin Antonia von der Behrens spricht wohl stellvertretend für alle, wenn sie sagt: „Der NSU-Prozess hatte keine abschreckende Wirkung auf die Neonazis, im Gegenteil, die Naziszene ging gestärkt aus ihm hervor.“

Das zeigte sich bereits während der Urteilsverkündung, als Neonazis auf der Besuchertribüne ungehindert Beifall klatschen durften – weil der Mitangeklagte André Eminger, der von seinem Verteidiger als „Nationalsozialist mit Haut und Haaren“ bezeichnet worden war, statt der von der Bundesanwaltschaft geforderten zwölf Jahre nur zweieinhalb erhielt und sofort auf freien Fuß kam. Und das zeigte sich am 2. Juni 2019, als Walter Lübcke (CDU), der Regierungspräsident von Kassel, auf seiner Terrasse erschossen wurde. Der dringend Tatverdächtige, der einschlägig mehrfach vorbestrafte Rechtsextremist Stefan E., hatte Lübcke offensichtlich seit Herbst 2015 im Visier, als der bei einer Bürgerversammlung das Asylrecht verteidigte. „Da muss man für Werte eintreten“, sagte Lübcke damals, „und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist.“ Dafür wurde der Regierungspräsident von Kassel heftig angefeindet, nahm er doch die Neonazis beim Wort. Zu deren Repertoire gehört der Spruch: „Wer Deutschland nicht liebt, muss Deutschland verlassen!“

Im Fall Lübcke geht es um etwas ganz Grundsätzliches: Der CDU-Politiker trat den Neonazis so mutig und entschieden entgegen wie kaum ein anderer, und genau dafür wurde er erschossen. Wenn sich mehr Leute dazu entschließen könnten, so deutliche Worte wie Lübcke zu finden, wäre es mit dem Nazispuk schnell vorbei. Das hervorstechendste Merkmal der Neonazis ist nämlich ihre Feigheit. In dem Moment, wo sie auf eine entschlossene Gegenmeinung treffen, die nicht nur von einem einsamen Einzelnen vertreten wird, treten sie den Rückzug an.

Kommentare (3)

  1. Wowbagger am 14.07.2019
    Während die NSU mit ihrem irrationalem Fremdenhass sich scheinbar willkürlich ihre Opfer aussuchte wurde mit Lübcke eine Person der Obrigkeit gezielt von den Nazis bestraft. Sein "Fehler" war seine Pflicht. Als Regierungspräsident, wie jeder andere Bürger auch, hat er die Grundwerte der Demokratie verteidigt. Es ist unser aller Pflicht darauf hinzuweisen, dass Rechtsradikale und Rechtspopulisten mit ihem menschenverachteten Weltbild in einer humanistisch, sozial geprägten Gesellschaft keinen Platz haben (oder sonst wo).
    Der NSU-Prozess war wichtig und richtig, aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und weil die Hinterbliebenen der Opfer ein Recht darauf hatten; ob er gerecht war und ob er in der Bevölkerung eine Reflektion fand, glaube ich nicht.
  2. Zarko am 13.07.2019
    Kommt die Armut zur Tür herein, fliegt die Liebe zur Demokratie zum Fenster hinaus.
    Heute wie damals.
    Das gilt für jeden Staat, für jedes Zeitalter, jede Bevölkerungsschicht, jeden Bildungsgrad,
    für uns genau so wie für andere Staaten, etwa über den großen Teich.
  3. Irmela Mensah-Schramm am 12.07.2019
    Das und vor allem wie die Nazi-Szene davon profitiert hat, wie dieser Staat (Politik und Behörden) mit Menschen umgehen, die sich jahrelang gegen die Neonazis engagieren, liegt ja nun auf der Hand!
    Staatsversagen hoch drei vor NSU und nach NSU!
    So genieße ich es persönlich auch schon mal "kriminell" zu sein (wegen angeblicher "Sachbeschädigung" von Hass-Sachbeschädigungen) und auch da anzupacken, wo eben dieser Staat immer wieder und immer noch so gnadenlos versagt !
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