Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) war einer der Ersten: Im Dezember löschte er seinen Twitter-Account, um gegen die Übernahme der Plattform durch den US-Milliardär Elon Musk zu protestieren. Musk, sagte Weil, vermeide jegliche Kontrollen und fördere unter dem Deckmantel der freien Rede die Verbreitung von Hate Speech. „Da muss ich nicht dabei sein“, schrieb er in seinem letzten Tweet, Das Profil seiner Staatskanzlei ließ er ebenfalls deaktivieren.
Ähnlich argumentierten Politiker*innen wie die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken. „In den Händen von Elon Musk wird Twitter als Debattenplattform zugrunde gehen“, tönte sie. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kündigte an, seinen Account bald zu deaktivieren.
Tatsächlich ist die neue Twitter-Strategie seit Musks Machtübernahme mit seinen aktuell 254 Millionen Usern fragwürdig. Zum einen wurde fast jeder zweite Angestellte entlassen – insbesondere im Moderationsteam, das für Fehlinformationen, Hassreden und Belästigung zuständig ist. Das spürte zum Beispiel der baden-württembergische Antisemitismusbeauftragte Michael Blume. Er klagte gegen 46 diffamierende Tweets – und bekam vom Landgericht Frankfurt recht: Twitter müsse dringend die systemischen Defizite in der Content-Moderation verbessern.
Mehr Beschwerden
Zusätzlich häufen sich die Beschwerden über den Datenschutz. Kürzlich soll ein Hacker persönliche Informationen von 400 Millionen Twitter-Usern zum Verkauf angeboten haben. Auch das Auswärtige Amt beobachtet die Entwicklungen mit „wachsender Sorge“ – insbesondere wegen der Sperrung von Journalist*innen. „Pressefreiheit darf nicht nach Belieben ein- und ausgeschaltet werden“, heißt es aus dem Haus von Annalena Baerbock (Grüne).
Politikwissenschaftler Simon Hegelich von der TU München hält die Entwicklung auf Twitter für extrem gefährlich. Er appelliert an die Nutzer*innen, den Herrschenden die Akklamation durch Likes und Retweets und inhaltsleere Zustimmung zu verweigern. "Ansonsten kann es passieren, dass Twitter einen Anteil daran hat, dass wir uns vermehrt über totalitäre Führer unterhalten müssen", warnt der Politologe. Musk jedenfalls habe eine politische Agenda, die weit über "Free-Speach" hinaus geht.
Das politische Spitzenpersonal im Freistaat will trotz der Warnungen und Kritik bei Twitter bleiben. CSU-Ministerpräsident Markus Söder dürfte die Deaktivierung seines Accounts mit über 400.000 Followern deutlich schwerer fallen als seinem niedersächsischen Kollegen Weil, der nur auf 15.000 kam. Auch Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) mit seinen 30.000 Fans will weiterhin auf der Plattform kommunizieren. Sein Ministerium schließt eine Abmeldung auch deshalb aus, weil die Plattform „ein zentraler Kanal für die externe Kommunikation“ sei.
Keine Gedanken müssen sich Innenminister Joachim Herrmann, Justizminister Georg Eisenreich, Verkehrsminister Christian Bernreiter und Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber (alle CSU) machen – sie haben kein Twitter-Profil.
Die anderen Regierungsmitglieder in Bayern versichern auf Anfrage der Staatszeitung, die Entwicklung des Kurznachrichtendiensts unter Musk genau zu beobachten. „Twitter muss sich an seine Selbstverpflichtung gegen Desinformation halten“, betont beispielsweise Digitalministerin Judith Gerlach (CSU). Weitere Schritte seien sonst nicht ausgeschlossen. Wo genau die roten Linien für sie liegen, lässt sie allerdings offen.
Die Pressestelle des Kultusministeriums kündigt eine Account-Löschung für den Fall an, dass sich die Regeln in Bezug auf die Meinungs- und Pressefreiheit gravierend verändern.
Der Landtag fährt zweigleisig: mit Twitter und Mastodon
Nicht auf Twitter verzichten will das Innenministerium: „Ein Löschen unseres Accounts würde dazu führen, dass wir kein Gegengewicht mehr zu möglichen Fake-Accounts setzen können.“
Die Abgeordneten im Landtag wollen ebenfalls der Plattform treu bleiben. „Aktuell gibt es seitens der CSU-Fraktion keine Überlegungen, sich von Twitter abzumelden“, sagt ein Sprecher. Die Grünen kritisieren zwar die Intransparenz, konstatieren der Plattform aber einen „nicht zu vernachlässigenden Stellenwert bei der Beschaffung von politischen Meinungen“. Auch SPD und FDP betrachten Twitter nach wie vor als „hilfreiches Tool“, um politische Entscheidungen an Menschen zu vermitteln, „die von den etablierten Medien nicht erreicht werden“.
Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) dagegen kritisiert das „willkürlichen Vorgehen“ Musks. Der Landtag ist dabei, zusätzlich ein Profil auf Mastodon anzulegen. Das spendenfinanzierte Netzwerk aus Deutschland mit neun Millionen Usern unterscheidet sich kaum von seinem großen Bruder und gilt als ernstzunehmende Twitter-Alternative.
Lob für den neuen Kurs der Plattform kommt von der AfD. Da jetzt weniger zensiert werde, werde die Meinungsfreiheit gestärkt, meint deren Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Alice Weidel. Hintergrund: Musk persönlich tweetete, dass die US-Regierung in der Vergangenheit Twitter Millionen von US-Dollar gezahlt hat, um coronakritische Posts zu zensieren. Tatsächlich wurden in diesem Zusammenhang mehr als 100.000 Beiträge gelöscht und über 11 000 Konten gesperrt – auch von Presseleuten, Menschen aus der Wissenschaft und Ärzt*innen, die ganz sachlich die Pandemiemaßnahmen kritisierten.
In diesen Fällen hatte sich niemand darüber aufgeregt, dass Twitter recht willkürlich darüber entscheidet, wer den Dienst nutzen darf und wer nicht.
(David Lohmann)
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