Politik

Die Corona-Krise hat sich auf das Lebensgefühl der Menschen ganz unterschiedlich ausgewirkt. (Foto: dpa/Warmuth)

19.11.2021

Die Starken wurden stärker

Eine Studie hat erforscht, welche Menschen wie auf die Pandemie reagieren – mit erstaunlichen Ergebnissen

"Man war einfach zu kaputt, ist abends nach Hause gekommen und auf der Couch gesessen und zusammengesackt."

"Immer wieder ging eine Türe auf. Ich habe das Gefühl, es hat auch viel nach vorne gebracht und ganz viel Klarheit und neue Möglichkeiten."

Zwei Zitate, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Und doch finden sie sich in ein und demselben Projekt: in der Studie „Lebensgefühl Corona – Erkundung einer Gesellschaft im Wandel“ der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Diakonie und des Gesundheitskonzerns Agaplesion, die jetzt vorgestellt wurde. Mithilfe eines Marktforschungsinstituts wurden dabei 50 Menschen aus ganz Deutschland innerhalb eines Jahres immer wieder befragt. Wie sie die Pandemie wahrnehmen. Wie sich ihr Leben verändert hat. Was ihnen Halt gibt.

Einen „Längsschnitt der Gesellschaft“ habe man auf diese Weise erhalten, sagt Studienleiter Daniel Hörsch von der Evangelischen Zukunftswerkstatt midi: „Erstmals gibt es damit eine qualitative Langzeitstudie, die einen unverstellten Blick auf alle Stadien der Corona-Zeit ermöglicht, um das Lebensgefühl dieser Zeit einzufangen.“

Ein Lebensgefühl, das Hörsch gerne mit dem Wort „ambivalent“ beschreibt. Genau das spiegelt sich auch in dem rund 200 Seiten starken Papier wider. Etwa die Ungläubigkeit und die Besorgnis der ersten Corona-Zeit. Das Aufatmen und die trügerische Zuversicht im Sommer 2020, gefolgt von Ernüchterung und Ermüdung im Herbst und Winter 2020 – während des „Lockdown-Dominos“, wie es der Studienleiter formuliert: „Die Menschen haben das empfunden wie Kaugummi.“ Aber auch die Erleichterung im Sommer 2021 wird deutlich, ebenso die Zweifel daran, ob die Pandemie tatsächlich schon überstanden ist.

Es gibt acht Corona-Typen. Zu welchem gehören Sie?

Wer in der Studie nach einfachen Antworten und knackigen Schlagzeilen sucht, dürfte enttäuscht werden. Zu vielschichtig sind die Ergebnisse. Um dennoch eine gewisse Ordnung in die Resultate zu bringen, stellen die Macher acht verschiedene Corona-Typen dar, die sich während der Arbeit herauskristallisiert haben: die Achtsamen, die Erschöpften, die Empörten, die Zuversichtlichen, die Mitmacher, die Genügsamen, die Denker und die Ausgebrannten. „Verdichtete Beschreibungen des empirischen Materials“ seien das, sagt Hörsch. Auf diese Weise wolle man die Veränderungsprozesse deutlicher sichtbar machen.

Hübsches Extra dabei: Ähnlich dem Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung bietet das Projekt den Online-Selbsttest Pandem-O-Mat (www.pandemomat.de), mit den Internet-Nutzer*innen selbst testen können, welcher dieser Gruppen sie zuzurechnen sein könnten.

Das sei jedoch nicht das Hauptziel der Studie gewesen, sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Vielmehr sei ein anderes Thema im Vordergrund gestanden: Was hat Corona mit den Menschen gemacht? „Wir wollten die Veränderungen, die aus dieser Pandemie resultieren, besser verstehen“, sagt Lilie. „Es ging darum, genau hinzuhören und wahrzunehmen.“ Überrascht habe ihn dabei eines: dass es vor allem von ihrer sozialen Herkunft abhängt, wie gut Menschen die Pandemie bewältigen. Corona, schreibt er in seinem Vorwort zur Studie, habe bestehende Unwuchten in der Gesellschaft noch vergrößert: „Die Starken wurden stärker und die Schwachen schwächer.“

 Welche Konsequenzen sich daraus für Kirche und Diakonie ergeben? Bei dieser Frage zeigt sich der Diakonie-Präsident durchaus selbstkritisch. In vielen Bereichen seien die Angebote des Wohlfahrtsverbands noch „zu konfektioniert“. Will sagen: zu wenig ausgerichtet auf die jeweiligen Bedürfnisse. „Wir müssen mit den Menschen viel passgenauere Angebote entwickeln“, räumt Lilie ein. Wie das funktionieren könnte? Vielleicht durch weitere Befragungen? Nicht unbedingt, sagt der Diakonie-Präsident. Stattdessen gehe es eher um die Haltung der Verantwortlichen selbst, „um echte, aufrichtige Neugier auf Menschen – wir müssen hinhören, was sie wollen“.

Ein Punkt, in dem er sich mit Christian Albrecht einig ist. Der Professor für Praktische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München wirkte ebenfalls an dem Studienprojekt mit. Der „große Imperativ“ daraus laute: „Sagt uns nicht so viel, fragt uns lieber mal“, sagt der Theologe. Und: Die Erwartungen vieler Menschen seien „kleinformatiger und bescheidener“, als die Kirche oft annehme. Statt Antworten auf große Fragen seien Beistand, Trost und Zuspruch gefragt. „Die großen Ideen nützen nur bedingt“, urteilt Albrecht. „Dagegen helfen viele kleine Ideen.“

Zum Beispiel der Pfarrer, der jeden Morgen zwei Stunden auf der Bank vor der Kirche anzutreffen ist. Oder die Seelsorgerin, die zu Spaziergängen einlädt. Oder auch nur die schlichte Erkundigung „Wie geht es Ihnen?“, wie bei den Interviews für die Studie. Gestaunt habe er darüber, wie viel dabei aus den Menschen herausgesprudelt sei, sagt Albrecht. Und: Es sei auch beschämend für die Kirche, dass sie diese einfache Frage vielleicht zu selten stelle.
(Brigitte Degelmann)

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