Politik

In asiatischen Ländern läuft beim Nahverkehr vieles längst digital – das könnte auch in Bayern die Verkehrssituation deutlich verbessern. (Foto: dpa /Tu Meifei)

25.01.2019

Digitale Wild-West-Stimmung

Durch die Digitalisierung entstehen unglaubliche Möglichkeiten und enorme Risiken – warum werden sie hierzulande nicht erkannt?

Deutschland verliert sowohl technisch als auch wirtschaftlich und gesellschaftlich den Anschluss an die Digitalisierung. Das glaubt zumindest Manfred Broy, Präsident des Zentrums Digitalisierung.Bayern. Bei einer Veranstaltung in München zeigt er auf, welche Chancen es gibt – und wo dringend eingegriffen werden müsste.

Die Wucht der Digitalisierung veranschaulicht das Mooresche Gesetz: Demnach verdoppelt sich die Leistungsfähigkeit der Technik alle 1,5 Jahre. Verglichen mit einem Auto würde das bedeuten: Wer von zehn Jahren einen Wagen mit 100 PS gekauft hat, hätte heute einen mit 10 000 PS – der das gleiche kostet. „Das sind Zahlen, die man sich nicht vorstellen kann“, sagt Manfred Broy bei der Veranstaltung Digitalisierung – Chancen und Risiken des Wirtschaftsforums der Sozialdemokratie in München. Er ist Präsident des Zentrums Digitalisierung.Bayern, das die Staatsregierung 2015 zur Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft ins Leben gerufen hat. Für den 69-Jährigen ist die Digitalisierung mindestens so bedeutsam wie die Erfindung des Buchdrucks oder des Autos. Das Problem: Deutschland verliert in seinen Augen sowohl technisch und wirtschaftlich als auch gesellschaftlich den Anschluss an die neue Entwicklung.

Im Ausland werden Fahrgastdaten digital erfasst – bei uns müssen Studierende engagiert werden, um Strichlisten zu machen

Bestes Beispiel: In Singapur, wo der Informatiker kürzlich war, werde in öffentlichen Verkehrsmitteln der Ein- und Ausstieg elektronisch erfasst – und anschließend je nach Streckenlänge bezahlt. Parallel dazu werden nicht personenbezogen Fahrgastdaten erfasst. So wissen die Verkehrsplaner immer, wie viele Passagiere wann wohin fahren. Ähnlich ist es in den baltischen Ländern. „Bei uns müssen zur Fahrgastzählung Studierende engagiert werden, die Strichlisten machen“, klagt Broy. Durch die Digitalisierung der Verkehrsplanung könnte das Verkehrschaos in Bayern deutlich gelindert werden. Zufällig sitzt der Münchner Stadtwerke-Chef Florian Bieberbach im Publikum. Er verweist auf die steigenden Käufe von digitalen Tickets. „Die Hoffnung stirb zuletzt“, kommentiert der pensionierte Uni-Professor.

Bei der Gesundheitsversorgung sind andere Länder ebenfalls weit voraus. Broy nennt Dänemark als besonders fortschrittliches Beispiel. Dort bekommt jeder Bürger bei der Geburt eine digitale Patientenakte, in der alle im Laufe seines Lebens gesammelten Daten gespeichert werden. „Das ist voll akzeptiert“, versichert der gebürtige Landsberger. „Und die Gesundheitsversorgung um Klassen besser.“ In Deutschland hingegen müssen Patienten bei jedem Arzttermin ihre Krankheitsgeschichte erzählen. Dadurch entstünden Fehler, und mögliche Zusammenhänge blieben unentdeckt. Außerdem könne dadurch auch die Abrechnung der Ärzte in unserem komplizierten Gesundheitssystem transparenter werden. Gerade in der Medizin könne durch die Digitalisierung Unglaubliches erreicht werden, ist Broy überzeugt. Zum Beispiel gibt es Apps, die den Blutzucker überwachen und bei kritischen Werten automatisch den Arzt informieren.

Auch in der Wirtschaft gibt es für Broy zu wenig Kompetenz in deutschen Firmen. „Wir haben lange hervorragend von Maschinenbauingenieuren gelebt, bekommen aber jetzt die Kurve nicht hin“, erklärt er. In den DAX-Unternehmen sei niemand, der etwas von Software verstehe. Selbst der Blick über die Landesgrenze hilft nicht: Unter den größten Internetunternehmen befindet sich keine europäische Firma – den Markt teilen sich Amerikaner und Asiaten. „Beunruhigend“ findet das Broy für unsere Wirtschaft. Außerdem fürchtet er eine Übermacht der globalen Monopole. Beim Onlineversandhändler Amazon wird bereits die Hälfte des digitalen Handels abgewickelt – b2c, also vom Unternehmen direkt zum Kunden. Die deutsche Wirtschaft hingegen verliere den Kontakt zum Endverbraucher. Früher hat der amerikanische Staat Monopole noch zerschlagen. Heute passiert das nicht mehr, glaubt der ehemalige Berater der Bundesregierung. Zum einen sei der Druck der Lobbyisten sehr groß. Zum anderen handele es sich bei den Unternehmen um die letzten amerikanischen Großerfolge. „Die können sie nicht aufgeben.“

Die Digitalisierung könnte massenweise Arbeitsplätze vernichten – warum reagiert die Arbeiterpartei SPD nicht?

Aufseiten der Politik sieht Broy dringenden Handlungsbedarf – vor allem bei der digitalen Infrastruktur. Da liege Deutschland im Ländervergleich besonders weit hinten, weil die Telekom so lange an Kupferkabeln festgehalten habe. Dadurch konnte sich das Unternehmen viel Geld sparen – 100 Megabit pro Sekunde schaffen die Kabel allerdings nicht. Jetzt muss erst mühsam das Glasfasernetz ausgebaut werden. „Es ist Aufgabe des Staates, solche Probleme rechtzeitig zu sehen“, kritisiert der Experte. Auch bei der Gesetzgebung komme die Politik nicht hinterher. Vermutlich überschauen Abgeordnete aufgrund der schnellen Entwicklung manche Themenfelder auch nicht. Die Internetgiganten freut’s: Sie zahlen keine oder nur geringe Steuern. „Wild-West-Stimmung“, nennt Broy das. Sogar die Autonomie des Staates sieht er in Gefahr. Während im realen Leben die Passbehörde unsere Identität vergibt, seien es im Internet Zahlungsdienstleister wie Paypal oder Mastercard. „Das muss der Staat dringend ändern.“

Ohne schnelles Eingreifen, glaubt Broy, wird durch die Digitalisierung auch die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer. Ob die Arbeit 4.0 Arbeitsplätze schafft oder vernichtet, darauf wollte er sich nicht festlegen. Für beide Ansichten gebe es stichhaltige Argumente. Klar sei aber, dass einfache Arbeiter sich schlechter auf die neue Situation einstellen könnten als qualifizierte Akademiker. Für Broy handelt es sich bei der Digitalisierung um die zweite große industrielle Revolution. „Ich wunder mich daher, dass sich die SPD das Thema nicht schnappt“, sagte er in Richtung der Anwesenden. Es brauche dringend ein sozialdemokratisches Konzept – „aber die SPD schläft“. Dafür erhält er selbst von den SPD-Mitgliedern Applaus. Wie die digitale Gesellschaft der Zukunft aussehen soll, darauf haben allerdings bisher auch andere Parteien noch keine zufriedenstellende Antwort geliefert. (David Lohmann)

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Sollen Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert werden?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2023

Nächster Erscheinungstermin:
29. November 2024

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 24.11.2023 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.