Politik

Die Pflege ist heute schon ein System des Mangels – und die Zahl der Pflegebedürftigen nimmt stark zu. (Foto: dpa/Skolimowska)

18.02.2022

Eine humanitäre Katastrophe

Schon wieder erschüttert ein Pflegeskandal den Freistaat – das Unfassbare dabei: Die Missstände waren bekannt

Hygienemängel, unversorgte Wunden, falsche Medikamente, zu wenig Essen und Trinken und immer wieder Gewalt gegen Bewohner*innen: Recherchen des Bayerischen Rundfunks und des Senders RTL legen unhaltbare Zustände in einem Augsburger Pflegeheim nahe. Nicht, dass die erschütternden Details den Kontrollinstanzen unbekannt gewesen wären: Der Medizinische Dienst (MD) soll dem BR zufolge bereits im vergangenen Oktober im Zuge einer unangemeldeten Stichprobe auf Missstände gestoßen sein. Eine Prüfung im Januar habe weitere Mängel zutage gefördert. Die Fachstelle für Pflege- und Behinderteneinrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht (FQA), angesiedelt bei der Stadt Augsburg, gibt laut BR an, das Seniorenheim bereits seit Frühjahr 2021 zu beraten. Der BR zitiert außerdem die Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassen ARGE, die Regierung von Schwaben und das bayerische Gesundheitsministerium. Alle waren in die Kontrolle des Heimes involviert. Offenbar wurden auch Maßnahmen angeordnet, um die Mängel zu beheben. Allein: Was nützen Kontrollen und Anordnungen, wenn sich nichts ändert?

Erschwerend kommt hinzu: Träger des Augsburger Heimes ist derselbe, in dessen Obhut auch das Skandalheim Schliersee fällt, gegen das derzeit ermittelt wird. Wenn aber die Pflegebedürftigen selbst dort, wo man besonderen Anlass hatte, genauer hinzusehen, nicht vor Vernachlässigung und Aggression geschützt gewesen sein sollen, wo dann?

Deutliche Worte findet die VDK-Präsidentin und stellvertretende bayerische Landesvorsitzende Verena Bentele: „Pflegeheimskandale wie jene in Schliersee oder jetzt in Augsburg sind keine Einzelfälle. Die Ursachen für schlechte Pflege (…) liegen im System und müssen endlich bekämpft werden.“

Die FDP fordert eine Pflege-Ampel für die Kontrolle von Heimen

Es ist bekanntlich ein System des Mangels. Wer einen geliebten Angehörigen in einem Pflegeheim unterbringt, kennt die bange Frage, ob der pflegebedürftige Mensch dort wirklich in guten Händen ist. Wird man ihm auf die Toilette helfen? Oder trägt er schon in kürzester Zeit ein sogenanntes aufsaugendes Hilfsmittel, weil keiner schnell genug auf sein Klingeln reagiert? Wohlmeinende, die sich auskennen, raten Angehörigen zu täglichen Besuchen. Nicht nur, um die Pflege zu entlasten. Sondern auch, um eine zusätzliche Kontrolle einzuziehen. In langen Phasen der Pandemie hat allerdings kein Angehöriger mehr einen kritischen Blick in den Pflegealltag werfen können. Die Heime: Sie wurden zur Black-Box. Zeitweise waren nicht einmal Kontrollen durch den MD möglich.

Dass die Heime Besucher*innen längst wieder offen stehen, ist kein Grund zur Entwarnung. Die Lage ist mies. Und die Zukunft sieht noch düsterer aus. Die steigende Lebenserwartung, längere Phasen der Pflegebedürftigkeit, das Altern der Babyboomer, veränderte Lebensformen, die es den Jüngeren nicht erlauben, die Älteren aufopferungsvoll zu Hause zu versorgen: All das erschwert die Situation für Pflegebedürftige auch künftig nachhaltig.

Dem aktuellen Pflegereport der Barmer zufolge wird der Pflegenotstand noch brisanter ausfallen als angenommen. Der Grund: Bisherige Berechnungen stützten sich ausschließlich auf demografische Effekte. Diesmal wurden die Auswirkungen der Pflegereformen in die Statistik eingearbeitet.

Demnach ist im Jahr 2030 mit rund 751 000 Pflegebedürftigen zu rechnen, das sind 135 000 Betroffene mehr als erwartet. Benötigt würden insgesamt etwa 146 000 Pflegekräfte. Claudia Wöhler, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Bayern, fordert darum, die Pflege qualitativ und digital weiterzuentwickeln und den Fachkräftemangel entschlossen zu bekämpfen. „Pflegeeinrichtungen müssen sich zu attraktiven Arbeitgebern entwickeln.“ Klar sei auch: Die finanzielle Belastung für Pflegebedürftige und Versicherungen steigt. Die Barmer sieht hier die Länder in der Verantwortung.

Auch Andreas Krahl, pflegepolitischer Sprecher der Landtags-Grünen, sagt: „Mir fehlt die Fantasie zu glauben, dass es bei einer Beitragsstabilität bleibt.“ Für ihn verdeutlicht der Pflegereport einmal mehr, „dass wir uns auf dem Weg in eine humanitäre Katastrophe befinden“.

Die Katastrophe, die sich in dem Heim in Augsburg abzeichnet, veranlasst Krahl, Ruth Waldmann (SPD) und Dominik Spitzer (FDP), sich zu einer Art Miniampel zusammenschließen, um gegen die „organisierte Verantwortungslosigkeit“ (Waldmann) vorzugehen. Spitzer bringt vorschlagsweise gleich noch eine Ampel ins Spiel, die bei Kontrollen in Pflegeheimen zum Einsatz kommen könnte. Rot stünde dann für Mängel, die sofort beseitigt werden müssen. Gelb für solche, für deren Beseitigung eine Frist eingeräumt wird. Bei Grün ist alles okay.

Das bayerische Gesundheitsministerium dagegen, das sich als oberste Fachaufsichtsbehörde an den Prüfungen der Heimaufsicht beteiligt hat, hält sich noch bedeckt. Man werde dem Gesundheitsausschuss aber, wie eine Sprecherin erklärt, kommende Woche einen Bericht zu den Vorgängen liefern.
(Monika Goetsch)

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