Politik

Fühlt sich jemand chronisch einsam, kann das Depressionen auslösen. (Foto: dpa/Frank May)

04.12.2020

"Einsamkeit ist eine Krankheit"

In der Corona-Krise sind viele Menschen allein – die soziale Isolation kann gravierende Folgen haben

Als im Juli nach dem ersten Lockdown die Besuchsdienste der AWO-Nachbarschaftshilfe Ottobrunn wieder möglich wurden, erlebte manch ehrenamtlicher Besucher einen Schock. „Einige der Senioren, vor allem diejenigen, die bereits zuvor geistig eingeschränkt waren, hatten in den drei Monaten ohne Kontakte extrem stark abgebaut“, erzählt Elke Schiller, die als eine von zwei Hauptamtlichen die Nachbarschaftshilfe betreut.

Sie ist deshalb froh, dass im aktuellen Teil-Lockdown Besuche bei einsamen Senior*innen und Menschen mit Beeinträchtigungen weiterhin möglich sind. Was allerdings seit Ende Oktober wieder gestrichen ist: der Treff zum Mittagstisch, bei dem sich vorwiegend ältere Menschen regelmäßig austauschen können. Immer wieder erreichen Schiller deshalb Anrufe von Seniorinnen und Senioren, die klagen: „Ich bin so allein.“

Zwar ist nicht jeder, der allein ist, auch einsam. „Viele Ältere kommen damit gut klar“, sagt Schiller. Gerade aber bei Menschen, die sich schon vor der Pandemie manchmal einsam fühlten, habe sich das Problem verschärft. Ein Problem, das bereits vor Corona stetig zunahm, wie Franz Wölfl, Vorsitzender der Landesseniorenvertretung Bayern, betont. Weil ältere Menschen heute oftmals alleine leben. Im Lockdown fallen nun auch noch viele Freizeitaktivitäten flach. Der Malkurs im Altenservicezentrum zum Beispiel. Oder die Senioren-Gymnastikstunde an der Volkshochschule. „Dazu kommt die Angst vor dem Virus, die das Einsamkeitsgefühl noch einmal verstärkt“, sagt Wölfl. Besonders fatal sei es, wenn niemand da ist, mit dem man über diese Ängste sprechen kann. Wenn keiner auch mal etwas Zuversicht verbreitet. Und einem sagt, dass man auch im Alter eine Corona-Erkrankung überstehen kann, so der 72-jährige Landshuter. „Das macht einen innerlich fertig.“

Einsame sterben früher

Eine Möglichkeit: ein Anruf bei der Telefonseelsorge der katholischen und evangelischen Kirche. Zu bestimmten Tageszeiten sei das Gesprächsaufkommen im ersten Lockdown um fast 50 Prozent höher gewesen als zuvor, heißt es dort. Im Mittelpunkt der Gespräche stehe seither oft das Thema Einsamkeit. Vor allem die Sorge, an Weihnachten alleine zu sein, beschäftige viele Anrufer derzeit.

Beim Krisendienst Psychiatrie des Bezirks Oberbayern ist die Zahl der Hilfesuchenden in der Corona-Krise zwar nur leicht gestiegen. Dort stellt man aber fest: Psychische Erkrankungen werden durch die Belastungen der sozialen Abgrenzung in ihrer Symptomatik noch einmal verstärkt. „Gerade bei Menschen mit psychischen Problemen ist Einsamkeit ein großes Thema, leben viele doch ohnehin oft sehr zurückgezogen“, erklärt Sozialpädagogin Natalja Ferroni, die Hilfesuchende persönlich besucht, wenn ein Problem nicht am Krisentelefon geklärt werden kann. „Manchmal sind Einsamkeitsgefühle auch das i-Tüpfelchen dafür, dass eine Krankheit ausbricht.“

„Einsamkeit selbst ist eine Krankheit“, meint dagegen Seniorenvertreter Wölfl. „Weil sie die Menschen verändert. Viele entwickeln erst dadurch eine Depression.“ Tatsächlich belegen viele Studien, dass Einsamkeit und Isolation psychische Krankheiten auslösen können. Aber auch physische. Chronisch einsame Menschen entwickeln eher Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, erklärt Maike Luhmann, Psychologie-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. „Und sterben sogar früher im Vergleich zu nicht einsamen Menschen.“

Einsamkeit betrifft mitnichten nur Ältere und Menschen mit Einschränkungen, auch wenn sie unter ihnen ausgeprägter ist. 15 Prozent der 26- bis 35-Jährigen beklagen, sich einsam zu fühlen, wie eine Studie der Ruhr-Uni bereits vor der Pandemie zeigte. Ein Grund: In Deutschland leben immer mehr Menschen alleine – aktuell rund 17 Millionen, nur 35 Prozent davon sind 65 Jahre und älter. In Bayern gibt es laut Statistischem Bundesamt 2,7 Millionen Einpersonenhaushalte, das entspricht mehr als 40 Prozent der Privathaushalte im Freistaat. Viele Alleinlebende arbeiten im Homeoffice, manche gar nicht mehr, weil ihnen mit der Pandemie der Job weggebrochen ist. Sie leiden unter den Corona-Beschränkungen besonders. In Belgien hat die Regierung deshalb bereits reagiert. Anders als Menschen, die nicht alleine leben, dürfen dort Singles zwei sogenannte Knuffelkontakte aus einem anderen Hausstand haben. In Deutschland macht man keine Unterschiede.

Aber nicht nur Erwachsene, auch Kinder und Jugendliche leiden in besonderem Maße unter den Corona-Beschränkungen und der sozialen Distanz, betont Matthias Fack, Präsident des Bayerischen Jugendrings. „Vor allem für junge Menschen sind soziale Kontakte insbesondere zu Gleichaltrigen immens wichtig.“ Viele Kinder fühlten sich unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie ratlos, verunsichert und einsam, so Fack. Er fordert, dass geschützte Räume der Begegnung, zum Beispiel solche der Jugendarbeit, auch im Lockdown öffnen dürften.

Was aber wiegt schwerer – die Corona-Ansteckungsgefahr oder die Auswirkungen von Isolation und Einsamkeit auf Seele und Körper? Das ist eine Frage, die zumindest manche Senioren der AWO-Nachbarschaftshilfe heute anders beantworten als noch zu Beginn der Pandemie, wie Elke Schiller erzählt. Jetzt, wo keiner weiß, wie lange die Beschränkungen und die damit verordnete Isolation noch andauern. „Dominierte bei der ersten Welle noch die Angst, sagen heute bereits einige: ,Ist mir doch wurscht, ob ich mich anstecke.‘“
(Angelika Kahl)

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