Politik

Thomas Beyer (57) hört als AWO-Landesvorsitzender auf, im Frühjahr kandidiert er nicht mehr für das Amt. (Foto: dpa/Awo/Isabel Krieger)

18.09.2020

"Es fehlen Ideen für die Zeit nach Corona"

Thomas Beyer, Vorsitzender der AWO Bayern, über Lippenbekenntnisse der Politik, 100 Jahre Arbeiterwohlfahrt und sein heutiges Verhältnis zur SPD

Vor 100 Jahren hat sich die Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Bayern gegründet. Heute ist sie ein professionelles Dienstleistungsunternehmen mit über 30 000 hauptamtlichen Mitarbeiter*innen. Was geblieben ist: der sozialpolitische Auftrag, betont der Landesvorsitzende Thomas Beyer. Eine seiner größten Sorgen aktuell: dass nach Corona als Erstes im Bereich Soziales gekürzt wird.

BSZ Herr Beyer, mit der Corona-Pandemie wurde überdeutlich, wie wichtig der soziale Sektor für eine funktionierende Gesellschaft ist. Menschen applaudierten sogar. Spüren Sie bei der AWO konkrete Auswirkungen dieser neuen Wertschätzung?
Thomas Beyer Nein, an den Rahmenbedingungen hat sich kein Deut geändert. Und es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, dass Staat, Ministerien und Kostenträger bereit wären, ihre Lippenbekenntnisse in ein anderes Handeln umzusetzen. Applaus oder ein Corona-Pflegebonus ändern nichts an den drängendsten Problemen. Dem Fachkräftemangel zum Beispiel. Die Hoffnung scheint zu sein, dass es nach Corona schon irgendwie wieder weitergeht. Aber der soziale Bereich war schon vor Corona auf Kante genäht. Natürlich gestehe ich ein, dass in den Ministerien erst einmal die Krisenbewältigung im Vordergrund stehen musste. Aber es müssen jetzt Ideen entwickelt werden, wie es nach der Krise weitergehen soll.

BSZ Eine Idee könnte sein, dass angesichts der immensen Corona-Kosten Kürzungsrunden kommen. Bereitet Ihnen das Sorge?
Beyer Ja, ich befürchte, es werden genau die Bereiche Soziales und Kultur sein, bei denen als Erstes gekürzt wird. Es ist ja schon so weit, dass die Krankenkassen aufgrund der Mehrbelastung durch die Corona-Krise den Zusammenbruch an die Wand malen. Dabei verschweigen die Kassen aber, dass sie durch die komplette Corona-Ausrichtung des Gesundheitssektors auch Unsummen eingespart haben. Es fanden ja zum Beispiel kaum mehr Operationen statt. Und natürlich macht mir große Sorge, wenn der bayerische Finanzminister sagt, dass der aktuelle Haushalt noch ohne Kürzungen auskommen könne. Denn was heißt das für die Zeit danach?

BSZ Die Arbeiterwohlfahrt feiert in Bayern ihren 100. Geburtstag. Wo gibt’s heute noch die größte Gemeinsamkeit mit der AWO der Gründungszeit, die damals eine reine Selbsthilfeorganisation war?
Beyer In der sozialpolitischen Komponente, in unserem Auftrag, Anstöße für eine Verbesserung der Strukturen und der sozialen Lage zu geben. Natürlich steht im Zentrum das tägliche Handeln, das heute auf einer ganz anderen professionellen Ebene stattfindet. Es gab in der Anfangszeit Debatten darüber, ob man in der AWO überhaupt hauptamtlich Beschäftigte haben will. Man hat aber erkannt, dass es nicht anders geht. Heute entwickelt sich das Verhältnis Mitarbeitende und Mitglieder immer weiter aufeinander zu.

BSZ Über 33 000 Hauptamtliche stehen heute 13 500 Ehrenamtlichen gegenüber. Geht damit nicht auch ein Stück weit die sozialpolitische Komponente verloren?
Beyer Dass das nicht passiert, darauf muss man sehr gut achten. Als Landesvorsitzender war es immer mein Ansinnen, zu sagen: Wir haben Profis, die die Fachlichkeit sicherstellen, aber der Dachverband selbst muss darüber hinaus seinen sozialpolitischen Auftrag erfüllen. Mit immer weniger Mitgliedern – jetzt noch 60 000 – wird das allerdings immer schwieriger, weil ähnlich wie bei einer politischen Partei oder einer Gewerkschaft mit der Zahl der Mitglieder auch die Legitimation abnimmt. Man muss das sorgsam in die Zukunft tragen.

BSZ Sie sprechen bereits von sich als Vorsitzendem in der Vergangenheit?
Beyer Wie angekündigt kandidiere ich nach vier Amtsperioden, das ist die zweitlängste Amtszeit eines AWO-Vorsitzenden in Bayern, nicht mehr für den Landesvorsitz. Durch Corona bleibe ich jetzt aber etwas länger als geplant im Amt – genauer gesagt, bis ins nächste Frühjahr hinein. Weil dann erst die Landeskonferenz und damit auch die Wahl eines neuen Vorsitzenden stattfinden kann. Ich bin aber weder amtsmüde, noch wehmütig.

BSZ Warum hören Sie dann auf, wollen Sie wieder zurück in die Politik?
Beyer Alles hat seine Zeit. Dieser Satz aus dem Buch Prediger, der Bibel, hat aus meiner Sicht vollkommene Berechtigung. Ich habe den Landesverband 16 Jahre lang geführt, nun sind andere dran. Ich plane auch nicht, wieder zurück in die Politik zu gehen. Auch das ist abgeschlossen. Ich habe eine volle Professur an der Technischen Hochschule Nürnberg. Eine Aufgabe, die in Zeiten von Corona nicht einfacher geworden ist.

BSZ Zurück zum Mitgliederschwund. Auch die Ehrenamtlichen, die sich bei der AWO engagieren, werden weniger.
Beyer Sie werden vor allem älter. Ich würde auch nicht von einem Mitgliederschwund reden. Es ist einfach so, dass nicht in dem Maße Junge nachkommen, wie wir langjährige Mitglieder leider altersbedingt verlieren. Viele Mitgliedschaften beruhen bei uns auf grundsätzlichen Bindungen. Das ist eine Stärke, die zugleich auch ein Handicap ist. Denn junge Menschen sind heute immer weniger bereit, sich Institutionen anzuschließen. Das gilt für die AWO genauso wie für viele Parteien oder Vereine.

"Es ist ein Unding, dass der Staat ganze Bereiche seiner eigentlichen Aufgaben, zum Beispiel die Migrationsberatung, der sogenannten freiwilligen Tätigkeit der Wohlfahrtsverbände überlässt"

BSZ Aber laut Studien engagieren sich gerade Jugendliche heute wieder mehr im Ehrenamt. Wieso nicht bei der AWO?
Beyer Wir haben ein sehr aktives Jugendwerk, mit dem wir Jugendliche ansprechen, die sich für soziale und sozialpolitische Fragen interessieren. In der gesellschaftlichen Debatte aber geht es heute oft um andere Themen. Die Frage des sozialen Zusammenhalts scheint in einer Gesellschaft, in der es vielen gut geht, offensichtlich nicht mehr so stark zu interessieren. In meiner Schulzeit, in den 1970er-Jahren, war das ein großes Thema. Ich habe mir damals mit meinem Vater jeden Mittag politische Debatten geliefert. Die Fridays-for-Future-Bewegung übt da heute eine andere Strahlkraft auf junge Leute aus.

BSZ Und jetzt wollen auch Sie den Klimaschutz stärker in den Blick nehmen? Die AWO kooperiert neuerdings sogar mit dem Bund Naturschutz.
Beyer Wir haben über dieses Thema die ganzen letzten Jahre schon leidenschaftlich diskutiert – auch im Zuge des neuen Grundsatzprogramms, das Ende 2019 verabschiedet wurde. Denn natürlich ist der Klimawandel ein drängendes Problem – und ich begrüße es ausdrücklich, dass sich junge Menschen hier engagieren. Ich möchte aber den Blick weiter öffnen. Der Umstieg auf gedämmte Häuser zum Beispiel bedeutet eine Verteuerung von Wohnraum, was wiederum diejenigen am stärksten belastet, die am wenigsten haben. Nämlich diejenigen, die jetzt schon einen Großteil ihres Lebensunterhalts für die Miete ausgeben müssen. Auch beim Thema Mobilität sind die sozialen Auswirkungen immens. Nehmen Sie den aktuellen Vorschlag des Ifo-Instituts, eine City-Maut einzuführen. Das ist doch wunderbar für die Porschefahrer, wenn dann die Leute mit weniger Geld von der Straße verschwinden. Wir müssen dringend auch die sozialen Auswirkungen von Umweltschutzmaßnahmen in den Blick nehmen. Einen solchen ganzheitlichen Ansatz aber leistet die Umweltpolitik bisher nicht. Und auch in der öffentlichen Debatte ist das noch nicht hinreichend angekommen.

BSZ
Entstanden ist die AWO aus der SPD heraus, die heute ums Überleben kämpft. Sie selbst waren Vize-landesvorsitzender der SPD. Wie stark sind diese Bindungen noch?
Beyer Die Tatsache, dass sich die SPD in vielerlei Hinsicht bewusst gegen den Zusammenhalt entschieden hat – Stichwort Hartz IV –, hat ihr bei sehr vielen Menschen Glaubwürdigkeit gekostet. Ich persönlich bin der Idee eines sozialen, demokratischen Rechtsstaats zu 100 Prozent verbunden. In meiner Partei habe ich mich deshalb immer für die Themen Solidarität und sozialer Zusammenhalt eingesetzt. Ich habe das fast schon gepredigt. Aber das war dort überwiegend nicht gewollt. Heute ist die Zahl meiner Gespräche mit aktiven SPD-Mandatsträgern sehr überschaubar. Ich bin heute ein interessiert kritischer Beobachter.

BSZ Und die Bindung der SPD zur AWO?
Beyer Natürlich gibt es da noch eine gewisse Nähe, die ja auch naheliegend ist angesichts der weitgehenden Übereinstimmung in den Grundüberzeugungen zu Gesellschaft und Staat. Was ich aber immer erwartet habe – und das hat mir durchaus auch Schwierigkeiten vonseiten der SPD eingebracht –, ist, dass die AWO eigenständig in ihrem Agieren ist.

BSZ Wie eigenständig ist die AWO in ihrem Agieren tatsächlich noch, schließlich ist sie auf öffentliche Gelder angewiesen? Kann sie noch selbst entscheiden, wo sie sich engagiert oder geht nur noch, was gerade gefördert wird?
Beyer Das wird tatsächlich immer schwieriger. Auch weil der Staat in so vielen Bereichen einen Eigenanteil von uns fordert. Die AWO verfügt aber weder über Heerscharen von Beitragszahlern noch wie die konfessionellen Verbände über einen Zugang zu Steuerquellen. Und es ist ein Unding, dass der Staat ganze Bereiche seiner eigentlichen Aufgaben, zum Beispiel die Migrationsberatung, der sogenannten freiwilligen Tätigkeit der Wohlfahrtsverbände überlässt, sie völlig unzureichend fördert – und dann sagt: Wenn ihr es nicht machen wollt, dann lasst es eben. Es muss auch hier einen Rechtsanspruch geben, so wie es sonst überall auch im Sozialrecht einen Beratungsanspruch gibt.
(Interview: Angelika Kahl)

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