Politik

Steigende Mieten treiben (Foto: dpa/Sven Hoppe)

03.05.2019

"Flyer reichen nicht, um Wutbürger zu besänftigen"

Der Nürnberger Politikwissenschaftler Thorsten Winkelmann über die zunehmenden Bürgerproteste, die Sorgen der Demonstranten und Versäumnisse der Politik

Die wachsende Protestkultur – das ist längst nicht mehr nur ein linkes Phänomen, sagt Thorsten Winkelmann, Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg, der zu diesem Thema gerade habilitiert. Bis auf die Grünen und die AfD sind die etablierten Parteien von diesem Phänomen eher abgekoppelt. Warum ist das so?

BSZ: Die Menschen demonstrieren immer häufiger – gegen Stromtrassen, gegen die Wohnungsnot, für die Bienen. Wann begann das eigentlich, wo liegen die Wurzeln?
Thorsten Winkelmann: Die Protestmotive dürften sich nach dem Ende der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus geändert haben. Mit der Intensivierung der ökonomischen Produktivität, der Technologieentwicklung sowie der Globalisierung geht die Freisetzung des Einzelnen aus milieuspezifischer Integration einher. Nicht die Gesellschaft hat sich aufgelöst, sondern die Zusammensetzung des Sozialen hat sich verändert. Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Ungleichheiten haben sich dabei individualisiert und privatisiert. Die neuen Konflikte setzen also dort an, wo die verdrängte Gesellschaftlichkeit im Privatleben durchschlägt: etwa der Gestank und der Lärm der Straße vor dem Haus.

BSZ: Aber man hat den Eindruck, früher beschränkte sich das Protestieren auf weniger, dafür aber globalere Themen – wie beispielsweise den Weltfrieden. Täuscht der Eindruck?
Winkelmann:  Globale Themen werden zwar auch thematisiert, wie etwa neoliberale Verwerfungen im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise oder Klimaveränderungen. Jedoch werden zunehmend private Aspekte des sozialen Lebens politisiert. Auf jeden Fall verbinden gesellschaftliche Widerstände nicht mehr Menschen aus gemeinsamen Klassen. Stattdessen entstehen kollektive Handlungen aus individueller Betroffenheit. Dies korrespondiert mit dem Befund eines gewandelten Politikverständnisses, welches weg von Parteien und Organisationen eher erlebnis- und betroffenheitsorientiert ausgerichtet ist. Hieraus folgt, dass solche Formen der politischen Artikulation ein notorisch instabiles Publikum ansprechen.

BSZ:
Sind die Teilnehmer soziologisch heute eine andere Klientel als etwa in den 1980er-Jahren, wo es gegen die Stationierung von Kernwaffen ging?
Winkelmann: Einzelne Proteste ziehen ganz unterschiedliche Menschen an: Während die Klimademonstrationen vorrangig von Schülern organisiert werden und die Auseinandersetzung um die friedliche Nutzung der Kernenergie mehrheitlich von Menschen mit post-materialistischen Wertvorstellungen getragen wurden, gehen die Widerstände etwa gegen Infrastruktureinrichtungen wie Stromtrassen oder Flughäfen vom Besitzbürgertum aus. Und die am stärksten von Marginalisierung betroffenen sozialen Schichten lassen sich kaum organisieren. Prosaisch formuliert: Die Immobilienwerte stehen auf dem Spiel, wenn Stromleitungen den Blick verstellen. Diese sogenannten NIMBY-Effekte (Not in My Back Yard) verweisen auf persönliche Betroffenheit und auf fehlendes Gemeinwohlbewusstsein. Zusammenfassend werden diese Proteste vorrangig von der „angry middleclass“ getragen.

BSZ: Viele Protestinitiativen, heißt es, seien der fehlenden Bindungskraft der Parteien geschuldet. Korrekt?
Winkelmann: Neben den abnehmenden Bindekräften der (Volks-)Parteien, Gewerkschaften und Kirchen muss sicherlich die abnehmende Milieubindung infolge gestiegener sozialer und territorialer Mobilität als Ursache genannt werden. Hinzu kommt eine Erosion von Gefolgsamkeit, wodurch Mehrheitsentscheidungen immer weniger als verbindliches wie verbindendes Faktum angesehen werden. Und natürlich ist Protest in Zeiten sozialer Medien leichter geworden. Im Umkehrschluss haben öffentliche Entscheidungsträger ihren privilegierten Beobachter- und Urteilsstandpunkt verloren.

"Rechts und  links verlieren als politische Standortbestimmung an Bedeutung"

BSZ: Eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bescheinigt den Deutschen einen wachsenden Anteil an rechtspopulistischen Einstellungen. Doch steht rechtes beziehungsweise nationalkonservatives Denken nicht im Widerspruch zu basisdemokratischem Protest und Bürgerengagement?
Winkelmann: „Rechts“ und „links“ verlieren als politische Standortbestimmung zunehmend an Bedeutung, zudem ist die besagte Untersuchung recht tendenziös. Richtig ist, dass gegenwärtig Organisationsprinzipien, die ehemals ausschließlich im linken Lager genutzt worden sind, auch von rechts adaptiert werden. Dass Protest und Protestbewegungen basisdemokratisch sein sollen, ist eine bis weit in die Forschung verbreitete These, deren empirische Evidenz wohl so nicht haltbar ist. Auch die weitverbreitete Annahme, Proteste repräsentierten den wahren Bürgerwillen und könnten eine Alternative zur tradierten, elitengesteuerten Politik sein, gehört in den Bereich der Legendenbildung vor allem jener Generation, die sich gegen Brockdorf und Gorleben hat mobilisieren lassen.

BSZ:
Von allen Parteien, scheint es, gelingt es den Grünen am besten, sich mit dem Bürgerprotest zu verbinden beziehungsweise dort anzudocken. Warum sind die anderen Parteien nicht so gewandt darin?
Winkelmann: Diese These ist richtig wie falsch zugleich: Falsch, weil es etwa auch der AfD gelingt, die Anliegen und Anhänger von Pegida für die eigene Sache zu instrumentalisieren. Richtig ist, dass die Grünen – hervorgegangen aus der Friedens- und Umweltbewegung und ergänzt durch Mitglieder zumeist trotzkistischer und maoistischer K-Gruppen – vormals protestaffin waren und nach wie vor ein Stück weit sind. Hinzu gesellt sich ein Zeitgeist, der empfänglich für unterschiedlichste ökomoralische Argumente ist. So geht es heute ums Bienensterben, morgen stehen schon Flugreisen unter Generalverdacht und übermorgen vielleicht der spritverbrauchende Individualverkehr.

BSZ: Die Verwaltung, besonders in den Kommunen, kommuniziert ihr Handeln deutlich ausführlicher und detaillierter als früher. Zu jedem Projekt gibt es Infoveranstaltungen. Wird das von der Bevölkerung gar nicht honoriert?
Winkelmann: Widerstände verfestigen sich insbesondere, wenn die versprochenen Ergebnisse nicht eintreten, nachträgliche Korrekturen erforderlich werden, die den ursprünglichen Zeit- und Kostenrahmen verändern. Es scheint ein Naturgesetz zu sein: Wo der Staat baut, laufen Kosten und Zeitplanungen erfahrungsgemäß aus dem Ruder. Und Infrastrukturplanungen und deren Umsetzung erfolgen derart, dass Politik und Verwaltung sämtliche Details in einem nicht-öffentlichen Verfahren konkretisieren. Auch gegen dieses obrigkeitsstaatliche Denken machen die Bürger mobil. Da reicht die Informationspolitik der öffentlichen Hand mit Flyern, Anhörungen und Einspruchsfristen allein nicht mehr aus, um dem Wunsch vieler Menschen nach Mitwirkung gerecht zu werden.
(Interview: André Paul)

Foto (FAU/Giulia Iannicelli): Politologe Thorsten Winkelmann (38) von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 

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