Politik

Aktenordner mit Unterlagen zum NSU-Ausschuss im Bayerischen Landtag. (Foto: dapd)

21.12.2012

Geschwärzte Akten zur Mordserie

Die Zwischenbilanz des NSU-Untersuchungsausschusses im Landtag fällt ernüchternd aus

Geheime Akten, die zusätzlich stellenweise geschwärzt sind – daran entzündete sich massive Kritik im NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags. Bei ihrer Zwischenbilanz nach der zehnten Sitzung und der zwanzigsten Zeugenbefragung forderten die Oppositionsparteien vom Innenministerium mehr Transparenz. Zuvor hatte die Einvernahme von vier pensionierten Spitzenbeamten einmal mehr ergeben, dass der bayerische Verfassungsschutz das mörderische Potenzial der von ihm beobachteten Neonazis systematisch unterschätzte.
Seit einem Vierteljahr vernimmt der NSU-Untersuchungsausschuss nun Zeugen, vor allem Verfassungsschützer und Polizeibeamte, die dem neunköpfigen Gremium erklären sollen, warum die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) an neun Ausländern und einer Polizistin komplett an den Behörden vorbeiging. Die Killernazis konnten vom September 2000 bis zum April 2007 ungestört ihrer rassistischen Mordlust frönen. Polizei und Verfassungsschutz (und in deren Gefolge selbst Medien wie Spiegel oder Welt) wähnten die Täter im „Milieu“ der Opfer. Die Hinterbliebenen der Mordopfer wurden teilweise über zehn Jahre hinweg verdächtigt.
Der Ausschussvorsitzende Franz Schindler (SPD) nannte in seiner Zwischenbilanz erste Erkenntnisse. So habe sich die ursprüngliche Darstellung von Innenministerium und Verfassungsschutz, beim NSU habe es sich wesentlich um ein „Thüringer Problem“ gehandelt, als falsch erwiesen. Vielmehr habe man „eine Vielzahl von Bezügen zu Bayern“ ermittelt. Die aus Jena stammenden späteren Killernazis waren in den 90er Jahren wiederholt in Bayern aktiv, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt etwa bei einer NPD-Demo 1997 gegen die Ausstellung über Wehrmachtsverbrechen in München, Beate Zschäpe im gleichen Jahr bei einer Veranstaltung mit Franz Schönhuber in Schönbrunn. Bereits im Jahr zuvor waren Böhnhardt und Mundlos bei der Nürnberger Polizei als Neonazis registriert, unter anderem deshalb, weil sie im dortigen Neonazi-Lokal „Tiroler Höhe“ aufkreuzten.


Biedere, arglose Verfassungsschützer


Dennoch verschwand das Neonazi-Trio vom Schirm sämtlicher, auch der bayerischen Behörden, als es im Januar 1998 abtauchte – obwohl damals in einer als Bombenwerkstatt genutzten Garage in Jena eine Adressenliste gefunden wurde, auf der unter anderem die bayerischen Neonazis Matthias Fischer und Kai Dalek standen – auch ein Café in Straubing war dabei. Kai Dalek wiederum war V-Mann des bayerischen Verfassungsschutzes. Und gleichzeitig ein Neonazi in führender Funktion – „ob steuernd oder maßgeblich steuernd, darüber kann man streiten“, so Schindler.
Die Grünen-Abgeordnete Susanna Tausendfreund verlangt deshalb: „V-Leute dürfen finanziell und technisch nicht so durch den Verfassungsschutz ausgerüstet werden, dass sie mit den Zuwendungen die Szene, die sie beobachten sollen, erst errichten.“ Kai Dalek baute das „Thule-Netzwerk“ auf, das für die Neonazis in den Zeiten vor dem Internet einen entscheidenden Sprung nach vorn darstellte. Wie bei Tino Brandt ist auch bei Kai Dalek davon auszugehen, dass das Geld vom Verfassungsschutz direkt in die Neonazi-Aktivitäten floss, was Tausendfreund zu der Mahnung veranlasst: „Ein ‚Brandstifter-Effekt‘ ist nicht tolerierbar.“
Michael Piazolo von den Freien Wählern wiederum monierte die wiederholt von Verfassungsschützern als Zeugen im Untersuchungsausschuss geäußerte Aussage, bei Neonazis sei keine „ideologische Fundierung“ festzustellen. Da habe man nur nicht genau hingesehen beziehungsweise die Doktrin vom „führerlosen Widerstand“ übersehen. Diese aus den USA stammende Nazi-Taktik besagt, dass der Terror von kleinen, voneinander unabhängigen Zellen auszuüben ist – die von konventionell arbeitenden Behörden gar nicht wahrgenommen werden. Die vernommenen Verfassungsschützer mussten regelmäßig passen, wenn sie mit dem Stichwort „führerloser Widerstand“ konfrontiert wurden. Allein die drei Sachverständigen Andrea Röpke, Hajo Funke und Steffen Kailitz konnten die strategische Masche der Neonazis auf Anhieb ausführlich erläutern. Die Sachverständigen sind deshalb für Piazolo auch eindeutig „fundierter“ als die Herren vom Verfassungsschutz.
Letztere hatten zuvor noch einmal ihren Auftritt und bestätigten den Eindruck, den bereits ihre Vorgänger gemacht hatten: biedere bayerische Beamte, die sich alles Mögliche vorstellen können, nur nicht, dass von einem Neonazi eine ernsthafte Gefahr ausgeht. Denn die dräut von ganz woanders, erklärte etwa Ministerialdirigent a.D. Wolf-Dieter Remmele den Abgeordneten: Der Anstieg der Zahl der Asylbewerber vor zwanzig Jahren sei „synchron“ zum Anstieg rechtsextremer Gewalttaten verlaufen – bis zur „politischen Lösung“, sprich: der defacto-Abschaffung des Asylrechts 1993.
Es ist die gute, alte Theorie, wonach die Ausländer schuld sind an der Ausländerfeindlichkeit, die Juden am Antisemitismus und die Frauen an der Vergewaltigung (hätten sie sich nicht so provozierend angezogen!). Schindler zu Remmele: „Ihre Darlegungen sind unerträglich und objektiv falsch. Dort, wo es am wenigsten Ausländer gibt, in den neuen Bundesländern, dort ist der Rechtsextremismus am stärksten.“
(Florian Sendtner)

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