Politik

Durch DNA-Screenings sollen Erkrankungen verhindert werden. (Foto: dpa/Andrew Brookes)

01.08.2025

Gläserne Babys? Diskussion um Genomscreening von Säuglingen

Das perfekte Baby: Ein Genomscreening von Säuglingen wird kontrovers diskutiert – in England wird es bald Realität. Wie sieht es in Bayern aus?

Jedes Kind soll in England innerhalb von zehn Jahren ein DNA-Screening erhalten. Das gesamte Genom soll dabei sequenziert werden, um Krankheitsrisiken einzuschätzen und Erkrankungen im besten Fall zu verhindern.

Kommt das auch hierzulande? In Bayern jedenfalls wird darüber kontrovers diskutiert. Das aktuelle Neugeborenen-Screening in Deutschland umfasst laut dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV)16 Erkrankungen. Vier weitere kommen 2026 hinzu. Getestet wird auf Krankheiten, die bald nach der Geburt zu schwerwiegenden gesundheitlichen Komplikationen führen können und bei früher Diagnose gut behandelbar sind. Über 99 Prozent aller Kinder nehmen am Screening teil.

Einige deutsche Eltern lassen ihr Baby mittlerweile auch im Rahmen des europäischen Projekts „Screen4Care“ genetisch screenen. Dabei wird untersucht, für welche seltenen Erkrankungen eine zuverlässige Frühdiagnose möglich ist. „Das menschliche Genom kann inzwischen innerhalb kurzer Zeit preisgünstig sequenziert werden“, sagt Sven Matthias Wellmann, Leiter der Kinderklinik der Barmherzigen Brüder in Regensburg.

Ethisch hält er die Sache aber für bedenklich: „Eine umfassende DNA-Diagnostik führt auch zu Ergebnissen, die nicht behandelbar sind und vielleicht erst im Laufe des Lebens Krankheitswert erlangen.“ Die Gefahr einer Stigmatisierung drohe. Zu fragen sei in diesem Zusammenhang beispielsweise, inwieweit eine identifizierte Krankheit Auswirkungen auf Leistungen von Kranken- oder Lebensversicherungen haben könnte.
Eine frühe DNA-Diagnostik könne hingegen sinnvoll sein, wenn ein Baby klinisch auffällig ist oder wenn es sich nicht normal entwickelt.

DNA-Tests gibt es nur bei konkretem Verdacht

Laut Sven Matthias Wellmann gibt es in Deutschland bereits DNA-Tests nach der Geburt bei begründetem medizinischem Verdacht. Beispiele seien Mukoviszidose oder Spinale Muskelatrophie. Elke Holinski-Feder, Humangenetikerin aus München, begrüßt den englischen Vorstoß. Eine Sequenzierung des Erbguts bedeute nicht, dass alle erhobenen Daten auch ausgewertet würden, sagt sie. Einen Missbrauch des DNA-Screenings hält die Humangenetikerin für weitgehend ausgeschlossen.

Auch Wolfram Henn, Humangenetiker am Institut für Immunologie und Genetik in Kaiserslautern, geht mit der britischen Initiative d’accord. Sie könnte zum Vorbild für eine Weiterentwicklung des deutschen Neugeborenen-Screenings werden: „Man sollte sich das nicht durch Fundamentalismus verbauen.“ Ethische Fragen seien jedoch sorgfältig abzuklären, so das ehemalige Mitglied des Deutschen Ethikrats.

Eine Genomsequenzierung ist im Detail äußerst kompliziert. Darauf verweist Thomas Völkl, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Josefinums in Augsburg. Grundsätzlich sieht er den Vorteil, dass sehr ernste Erkrankungen sehr früh erkannt und im besten Fall behandelt werden können. Auf der anderen Seite wisse man von genetischen Varianten häufig nicht, ob sie jemals eine Krankheit auslösen. „Viele genetische Veränderungen haben keine klare Bedeutung“, bestätigt der Münchner Kinderarzt Stefan Eber. Er sieht in seiner Praxis regelmäßig Kinder, bei denen genetische Auffälligkeiten festgestellt wurden, ohne dass eine Erkrankung auszumachen ist.

Ein Ganzgenomscreening bindet hohe finanzielle und zeitliche Ressourcen, so der Neugeborenenmediziner. Die fehlten dann für biochemisch nachweisbare Stoffwechseldefekte. Laut Stefan Eber werden die meisten Stoffwechselerkrankungen durch den biochemischen Nachweis eines fehlenden oder falschen Stoffwechselprodukts entdeckt. Bald werde es ein neues biochemisches Neugeborenen-Screening auf einen angeborenen, nicht genetisch bedingten Mangel an Vitamin B 12 geben. „Dies wird bei Weitem der häufigste angeborene Stoffwechseldefekt werden“, prophezeit er. Die Mittel für den neuen Test kämen aus dem Etat für Neugeborenen-Screenings.

Widerspruch gegen grundsätzliche Genomuntersuchungen kommt von Mascha Grieschat von der Initiative für gerechte Geburtshilfe: „Wir halten eine pauschale Genomsequenzierung derzeit nicht für empfehlenswert“, sagt sie. Zu viele Fragen seien noch offen. So müsse vor der Einführung sichergestellt sein, dass alle Eltern tatsächlich ohne Druck an einem solchen Screening teilnehmen oder es ablehnen können. Mit Blick auf den gravierenden Mangel an Kinderärzten, Psychologen und Pflegekräften stelle sich zudem die Frage, ob alle als krank identifizierten Kinder überhaupt adäquat medizinisch und psychologisch versorgt werden könnten.

Mascha Grieschat kann sowohl ethische als auch datenschutzrechtliche Bedenken gegenüber „gläsernen Babys“ nachvollziehen. Es gebe ganz offensichtlich „Bestrebungen aus medizinischer und wirtschaftlicher Richtung, die vollständigen genomischen Rohdatensätze dauerhaft zu speichern und sie für Forschungszwecke nutzbar zu machen“. Die immensen Kosten für die Genomsequenzierung sieht auch sie kritisch. Schon jetzt fehle massiv Geld etwa in der Geburtshilfe. (Pat Christ)
 

Kommentare (0)

Es sind noch keine Kommentare vorhanden!
Die Frage der Woche

Soll Bayern weiter am späten Sommerferienstart festhalten?

Unser Pro und Contra jede Woche neu
Diskutieren Sie mit!

Die Frage der Woche – Archiv
X
Vergabeplattform
Vergabeplattform

Staatsanzeiger eServices
die Vergabeplattform für öffentliche
Ausschreibungen und Aufträge Ausschreiber Bewerber

Jahresbeilage 2024

Nächster Erscheinungstermin:
28. November 2025

Weitere Infos unter Tel. 089 / 29 01 42 54 /56
oder
per Mail an anzeigen@bsz.de

Download der aktuellen Ausgabe vom 29.11.2024 (PDF, 19 MB)

E-Paper
Unser Bayern

Die kunst- und kulturhistorische Beilage der Bayerischen Staatszeitung

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.

Abo Anmeldung

Benutzername

Kennwort

Bei Problemen: Tel. 089 – 290142-59 und -69 oder vertrieb@bsz.de.